SECCIÓN MONOGRÁFICA
Die Debatte zwischen Kant und Fichte über das Verhältnis der Kritik und der Philosophie als System
Revista de Estudios Kantianos. Publicación internacional de la SEKLE
Universitat de València, España
ISSN-e: 2445-0669
Periodicidad: Semestral
vol. 8, núm. 1, 2023
Recepción: 17 Enero 2023
Aprobación: 17 Mayo 2023
Schlüsselwörter: Kritik, Propädeutik, Metaphysik, System, Fichte
Keywords: criticism, propaedeutics, metaphysics, system, Fichte
1. Die Kritik als Vorarbeit und Grundlage bei Kant
Die virtuelle Debatte zwischen Kant und Fichte über das Verhältnis der Kritik und der Philosophie als System wird in einen weiteren Kontext eingebettet. In den späten Jahren des 18. Jahrhunderts erfolgt häufig eine Unterscheidung zwischen der Wissenschaftslehre, der Metaphysik, der Transzendentalphilosophie oder der Philosophie überhaupt einerseits und der Kritik andererseits, die oft als minderwertig angesehen wird. Die Abwertung der Kritik resultiert daraus, dass sie zusammen mit der Kantischen Philosophie als Ganzes zunehmend überholt erscheint. In diesen Jahren verschwindet Kant “weitgehend aus der Diskussion, die Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie bez[ieht] sich nur noch auf Fichte” (Rohs, 1991, p. 121), denn selbst kompetente Leser wie Schelling, Hölderlin oder Hegel halten ihn für den Vollender der Transzendentalphilosophie. Jacobi äußert die gleiche Meinung, als er in seinem im März 1799 an Fichte geschriebenen, später auch als Buch veröffentlichten Brief erklärt: ich “bin bereit es öffentlich zu bekennen, daß ich Sie für den wahren Meßias der speculativen Vernunft” halte. Ich rufe Sie “unter den Juden der speculativen Vernunft für ihren König aus; drohe den Halsstarrigen es an, Sie dafür zu erkennen, den Königsberger Täufer aber nur als Ihren Vorläufer anzuerkennen” (Jacobi, 1972, pp. 226-227)[2]. Interessant an diesem Zitat ist nicht, dass Jacobi den damals des Atheismus angeklagten Fichte mit Christus vergleicht. Kaum zehn Jahre zuvor hat Reinhold dasselbe mit Kant getan, der seiner Meinung nach “das Evagelium der reinen Vernunft” (Reinhold, 1790, p. 104) gebracht hat, und der “nach hundert Jahren die Reputation von Jesus Christus haben müsse.” (Schiller, 1848, p. 162) Interessant an Jacobis Bekenntnis ist, dass noch nicht einmal zehn Jahre vergangen sind und Kant nur der Autorität des Vorläufers des wahren Messias der reinen Vernunft würdig scheint.
Je mehr sich solche Stellungnahmen vermehren, desto neugieriger wäre das Publikum auf Kants Meinung. Nach langem Überreden gibt er im August 1799 eine Erklärung heraus, in der er sich scharf von Fichte distanziert. Er reagiert mindestens ebenso sehr auf die Wissenschaftslehre selbst, die er “für ein gänzlich unhaltbares System” (Kant, 1799, AA XII: 370) hält, wie auf die Äußerungen, die über das Denken von ihm bzw. von Fichte in einer Rezension des Buches Entwurf der Transcendental-Philosophe von einem gewissen Buhle zu lesen sind.
Der gegenüber Fichte voreingenommene anonyme Rezensent unterscheidet nicht nur zwischen Kritik und Transzendentalphilosophie, sondern behauptet auch, Kants Verdienste bezögen sich hauptsächlich auf erstere. Er zitiert zunächst Buhle, der – nach eigenem Eingeständnis – “gar keine Schwierigkeit hat zu begreifen, dass Kant, als Erfinder der Idee einer Transscendental-Philosophie, sie auch in ihrem ganzen Umfange realisierte.” Dann fährt der Rezensent so fort: “Sonderbar! dass der Verfasser [Buhle], wie die meisten Kantianer, es dem Urheber der Kritik durchaus nicht glauben wollen, dass es blos eine Propaedevtia zur Transscendental-Philosophie, nicht aber das System dieser Philosophie selbst geliefert habe.” (Anonym, 1799, Spalte 58). Nun, nicht nur Buhle und die Kantianer, sondern auch Kant selbst will das nicht glauben. Er bemerkt in der Erklärung,
daß die Anmaßung, mir die Absicht unterzuschieben: ich habe bloß eine Proprädevtik zur Transscendental=Philosophie, nicht das System dieser Philosophie selbst, liefern wollen, mir unbegreiflich ist. Es hat mir eine solche Absicht nie in Gedanken kommen können, da ich selbst das vollendete Ganze der reinen Philosophie in der Crit. der r. V. für das beste Merkmal der Wahrheit derselben gepriesen habe. (Kant, 1799, AA XII: 370-371)[3]
Es ist schwer den Streit über das Wesen und Ausmaß der tatsächlich von Kant geleisteten Arbeit zu beurteilen, da die Wortwahl des Rezensenten, Kant und – wie wir sehen werden – Fichte nicht ganz übereinstimmen. Kein Wunder, dass Fichte in seiner öffentlichen Antwort auf Kants Erklärung meint, sein Streit mit ihm ist “ein bloßer Wortstreit.” (Fichte, 1973a, 76) Mein Ziel in diesem Aufsatz ist aber gerade zu zeigen, was die beiden mit dem Wort “Kritik” bezeichnen, und es erfordert auch die Berücksichtigung anderer Begriffe. Ich möchte als Beispiel für die Verwirrung der Begriffe noch eine Stelle aus der Rezension zitieren. Als der Rezensent sich dazu bereit macht, Kant feierlich einzuladen, eine Erklärung über die Wissenschaftslehre abzugeben, schreibt er:
Kant ist der erste Lehrer der Transscendental-Philosophie und Reinhold der trefflichste Verbreiter der kritischen Lehre: aber der erste Transscendental-Philsoph selbst ist unstreitig Fichte. Fichte hat den in der Kritik entworfnen Plan realisiert und den, von Kant angedeuteten transscendetalen Idealismus systematisch durchgeführt. (Anonym, 1799, Spalte 61)
Offensichtlich muss Reinhold die kritische Theorie verbreiten, denn – wie der Rezensent im nächsten Satz noch einmal feststellt – diese ist es, die Kant geschaffen hat. Da Fichte aber sein “würdigster Schüler” ist, muss Kant auch ein Lehrer der Transzendentalphilosophie sein, was schwer mit dem zu vereinbaren ist, was auch im folgenden Satz gesagt wird, dass Fichte der “Urheber der Transscendental-Pphilosophie” (Ebd.) sei.
In welchem Verhältnis stehen also Kritik und Transzendentalphilosophie? Kann Kant die eine ohne die andere erschaffen? Auch die bereits zitierte Stelle seiner Erklärung weist darauf hin, dass Kant das Wort “Transzendentalphilosophie” als Bezeichnung für das System akzeptiert, welches er entwickeln will. Dies steht im Einklang damit, dass sein Hauptwerk eine enge Verbindung zwischen Transzendentalphilosophie und Kritik feststellt. Die Transzendentalphilosophie “ist das System aller Principien der reinen Vernunft. Daß die […] Kritik nicht schon selbst Transscendental=Philosophie heißt, beruht lediglich darauf, daß sie, um ein vollständig System zu sein, auch eine ausführliche Analysis der ganzen menschlichen Erkenntniß a priori enthalten müßte.” (KrV, A13/B27) Später liest man:
Zur Kritik der reinen Vernunft gehört demnach alles, was die Transscendental=Philosophie ausmacht, und sie ist die vollständige Idee der Transscendental=Philosophie, aber diese Wissenschaft noch nicht selbst, weil sie in der Analysis nur so weit geht, als es zur vollständigen Beurtheilung der synthetischen Erkenntniß a priori erforderlich ist. (KrV, A14/B28, vgl. A11/B25)
Der Grund, warum Kant in der Erklärung lediglich von der Absicht spricht, dieses philosophische System zu entwickeln, anstatt zu behaupten, dass er es bereits entwickelt hat – womit er die “Anmaßung” des Rezensenten schärfer zurückweisen könnte –, liegt wohl darin, dass auch nach Abschluss der kritischen Trilogie und selbst nach der Veröffentlichung von Werken, die auch gemäß ihrem Titel als “Metaphysik” einzuordnen sind, immer noch Aufgaben für die Analyse übrig geblieben sind. Immerhin kann Kant auf die reine Philosophie als ein vollendetes Ganzes als Argument verweisen, denn die Durchführung der noch fehlenden Analyse wäre keine erkenntnisvermehrende Tätigkeit in dem Sinne, dass sie die Grenzen des Wissens weiter verschieben würde, als die Kritik sie setzt. Nur innerhalb dieser Grenzen kann eine Weiterentwicklung des Systems erfolgen. Somit ist das System der Transzendentalphilosophie nach Abschluss der kritischen Arbeit sowohl vollständig als auch unvollständig, da es bereichert, aber nicht erweitert werden kann.
Der Rezensent hat zwei zusammenhängende Behauptungen über die kantische Kritik aufgestellt. Zum einen, dass sie kein System ist, und zum anderen, dass sie lediglich eine Propädeutik darstellt. Meine bisherige Analyse zeigt, dass die erste Aussage nur in gewissem Sinne wahr ist, und dementsprechend kann auch die letztere nicht vollständig wahr sein. Wenn das System nichts anderes ist als die Gesamtheit aller in angemessenen Verbindungen gestellten Grundsätze und abgeleiteten Sätze bzw. Begriffe, dann kann man sagen, dass die Kritik kein System ist. Wenn wir jedoch unter einem System nur die Elemente verstehen, die die innere Struktur des Ganzen bestimmen und ihre Beziehungen zueinander, dann kann man sagen, dass die Kritik ein System darstellt. Denn sie entwirft den Plan der Transzendentalphilosophie “architektonisch, d. i. aus Principien,” (KrV, A13/B27) und zu ihr “gehört […] alles, was die Transscendental=Philosophie ausmacht.” (KrV, A14/B28) Daher ist die Kritik keine bloße Propädeutik, sondern ein integraler Bestandteil der Transzendentalphilosophie (KrV, A841/B869, A850/B878, vgl. Wildfeuer, 1999, pp. 29-30). Obwohl die Kritik “nicht die Erweiterung der Erkenntnisse selbst, sondern nur die Berichtigung derselben zur Absicht hat und den Probirstein des Werths oder Unwerths aller Erkenntnisse a priori abgeben soll” (KrV, A11/B26), zieht sie, während sie auf diese Weise urteilt, durch das Abstecken den Kreis wertvoller Erkenntnisse, die Grenzen der reinen Philosophie. Daher ist die Kritik für Kant die Grundlage der Transzendentalphilosophie in zweierlei Hinsicht. Einerseits, weil sie ihre Quellen, Grenzen, Methode (KrV, BXXII) und Idee (KrV, A14/B28), ihren Plan (KrV, A13/B27) und Entwurf (KrV, AXIX) umreißt, und andererseits, weil sie viele ihrer Grundaussagen ausgehend von einem einzigen Prinzip (KrV, AXIX), d.h. in einem System gefasst angibt.
2. Kritik als nachträgliche Reflexion bei Fichte
Der Rezensent ist zu voreingenommen gegenüber Fichte, um seine nuancierte Sicht auf Kant vertreten zu können. Fichte sieht nämlich einen viel geringeren Unterschied zwischen Kants Philosophie und seiner eigenen als der Rezensent. Er würde nicht sagen, dass Kant lediglich der Urheber der Kritik, also der Propädeutik der Transzendentalphilosophie, sei, so dass Kant, da die Transzendentalphilosophie von ihm, von Fichte, geschaffen wurde, nichts weiter getan hätte, als eine Propädeutik zur Wissenschaftslehre zu schreiben. Seit Fichte Ende 1793 die Wissenschaftslehre gefunden hat, prägt eine Art Dreifaltigkeit sein Verhältnis zum Kritizismus, die “darin besteht, dass er Kant kritisiert, zugleich verbessern und vollenden will und sich doch und gerade so in einer Grundübereinstimmung mit ihm weiß.” (Zahn, 1979, p. 485) Fichte nennt Kant seinen Lehrer (Fichte, 1972, p. 104), und hält ihn für seinen Meister, obwohl ihm ab 1795 immer wieder mitgeteilt wird, dass Kant keine gute Meinung von der Wissenschaftslehre habe, und obwohl Kant ihn in der Erklärung offen, unverblümt und nicht immer korrekt kritisiert. Wenn jene zeitgenössischen und modernen Interpreten Recht haben, die glauben, dass seine Philosophie ein anderes Paradigma verkörpert als die Kantische Philosophie (vgl. Stolzenberg, 2017, pp. 125-127, 138-139; vgl. Rush, 2006, pp. 191-192), dann muss Fichte dies lange Zeit nicht bemerkt haben. Er behauptet immer wieder, dass “er nie etwas wird sagen können, worauf nicht schon Kant, unmittelbar oder mittelbar, deutlicher oder dunkler, gedeutet habe.” (Fichte, 1965, p. 110) Dass sein “System kein anderes sey als das Kantische: das heißt: es enthält dieselbe Ansicht der Sache, ist aber in seinem Verfahren ganz unabhängig der Kantischen Darstellung.” (Fichte, 1970g, 184) Dass die Wissenschaftslehre “mit der Kantischen Lehre vollkommen übereinstimme, und keine andere sey, als die wohlverstandene Kantische.” (Fichte, 1970g, 221) In der letztgenannten Formulierung bezieht sich der Ausdruck “wohlverstandene” auf das, was Fichte an anderer Stelle gesagt hat, nämlich dass die Wissenschaftslehre den Geist der Kantischen Philosophie perfekt erfasst, obwohl Kants Buchstabe manchmal etwas anderes zu sagen scheint. In der Erklärung lehnt Kant auch diese gebräuchlich gewordene Unterscheidung ab: ich “erkläre […] hiermit nochmals, daß die Critik allerdings nach dem Buchstaben zu verstehen […] ist.” (Kant, 1799, AA XII: 371) Dies bringt Fichte jedoch nicht ins Wanken, und er bekräftigt nochmals in einem Brief an Schelling, dass er “völlig überzeugt [ist], dass die Kantische Philosophie, wenn sie nicht genommen werden soll, wie wir sie nehmen, totaler Unsinn ist.” (Fichte, 1973b, p. 85)
Fichte muss Kant besser verstehen können, als Kant sich selbst versteht, da er sonst nicht die grundlegende Identität ihrer Philosophien behaupten könnte, obwohl sie in vielerlei Hinsicht offensichtlich unterschiedlich sind. Gleichzeitig strebt Fichte danach, mehr zu tun, als nur seinen Meister richtig zu interpretieren. An einigen Stellen möchte er ihn korrigieren, an anderen Stellen will er die von Kant versäumten Ableitungen nachholen. Vor allem aber strebt er danach, die Transzendentalphilosophie zu vervollständigen und gleichzeitig verständlich und unbestreitbar zu machen, indem er sie auf einen einzigen letzten Grund zurückführt. Er sieht den Hauptfehler der kantischen Philosophie darin, dass sie mangels einer einheitlichen Grundlage auf Theorie und Praxis auseinanderfalle, und selbst ihre oft beklagte Unverständlichkeit lasse sich dadurch erklären, dass ihre Prämissen, aus denen ihre Aussagen folgen, nicht gegeben seien. Er bringt diese Idee in mehreren Briefen zum Ausdruck[4]. Z.B.
Kant hat überhaupt die richtige Philosophie; aber nur in ihren Resultaten, nicht nach ihren Gründen. Dieser einzige Denker wird immer wunderbarer; ich glaube, er hat einen Genius, der ihm die Wahrheit offenbart, ohne die Gründe derselben zu zeigen! Kurz, wir werden, wie ich glaube, in ein Paar Jahren eine Philosophie haben, die es der Geometrie an Evidenz gleich thut. (Fichte, 1970b, p. 28)[5]
Natürlich erhofft sich Fichte diese evidente Philosophie nicht von Kant, sondern er selbst will sie liefern. Wahrscheinlich gibt er sich selbst Jahre, um dies zu tun, weil er nicht glaubt, dass das, was Kant bereits geschrieben hat und die Art und Weise, wie er es geschrieben hat, ohne Änderungen auf die Grundlage gestellt werden kann, die ihm in Form des Satzes “Ich = Ich” bereits sich abgezeichnet hat. Nach seiner Diagnose hängt Kants Philosophie nicht nur in der Luft, sondern stellt nicht einmal ein wirkliches System dar, d.h., sie ist “noch nicht im Zustande einer Wißenschaft” (Fichte, 1970e, p. 18). Sie würde gerade dann zum System werden, wenn ihre Sätze – die kantischen “Resultate” – in einem einzigen Prinzip verbunden würden, welches ihnen Gewissheit verleiht und hierarchische Beziehungen zwischen ihnen herstellt, entsprechend der Ordnung ihrer Ableitung.
Wir sehen also drei unterschiedliche Standpunkte bezüglich der Kritik. Für Kant ist die Kritik nicht nur Grundlage, sondern auch das Gerüst eines Systems, in dem eine vollständige Reihe von Sätzen und Begriffen die Räume zwischen den “Gitterpunkten” ausfüllt, und somit ist die Kritik ihrem Inhalt nach Teil dieses Systems. “Kritik und System sind daher nicht wesentlich verschieden, sondern lediglich zwei Explikationsweisen des Systems der Vernunft, von denen die letztere sich durch die Vollständigkeit der Ableitungen auszeichnet.” (Wildfeuer, 1999, p. 30) Der Rezensent bestreitet, dass die kantische Kritik ein System sei, hält sie jedoch gleichzeitig für geeignet, eine Propädeutik zu sein, eine Art Fundament für ein System. Auch der frühe Fichte bestreitet, dass die kantische Kritik ein System wäre, sieht sie aber gleichzeitig nicht als Grundlage eines zukünftigen Systems, sondern als dessen Baumaterial an. Er will sie zu einem System formen, indem er sie richtig begründet und ihre inneren Zusammenhänge klarstellt. Fichte beginnt mit dieser Arbeit, sobald er Ende 1793 die als geeignet erachtete Grundlage gefunden hat. Der Satz “Ich = Ich” synthetisiert gleichsam die Kant zugeschriebene Erkenntnis, “daß man von Untersuchung des Subjekts ausgehen” muss, mit der Reinhold zugeschriebenen Erkenntnis, nach welcher, damit die Philosophie eine strenge Wissenschaft ist, “die Untersuchung aus einem Grundsatze geführt werden” muss[6].
Fichte bezeichnet sein System nicht nur als Wissenschaftslehre, sondern mit Vorliebe auch als Metaphysik und Transzendentalphilosophie. Er verzichtet jedoch von Anfang an darauf, es als Kritik zu bezeichnen. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass die Kritik nach Kants Wortgebrauch doch eine Propädeutik für etwas anderes, nämlich das System, ist, Fichte hingegen strebt genau danach, dieses System zu schaffen, genauer gesagt, noch vollständiger zu entwickeln, als Kant es getan hat. So wäre es unangemessen, seine Philosophie auch Kritik zu nennen. Da aber die Wissenschaftslehre als System Fichtes Erachtens keiner Propädeutik bedarf, schon gar nicht der Art, welche die Kritik bei Kant durchführt, kann er auch auf das Wort “Kritik” mit der Propädeutik verzichten. Die Wissenschaftslehre geht von einem unbedingten und für alle evidenten Grundsatz aus, so trägt sie ihre Grundlage in sich und bedarf keiner weiteren Begründung.
Trotzdem definiert Fichte wenige Jahre später, 1798, drei seiner bekannten Werke, die er für eine Art Einleitung in die Wissenschaftslehre bestimmt, als Kritik. In der Vorrede zur zweiten Auflage einer dieser Schriften, Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, formuliert er auch eine kleine Theorie der Kritik, und nutzt dabei die Gelegenheit, Kants Meisterwerk einzuschätzen. Fichte unterscheidet zunächst zwischen Kritik und Philosophie, wobei er die Philosophie in diesem Zusammenhang als Metaphysik bezeichnet[7]. Metaphysik wird nicht als Lehre von den Dingen an sich verstanden, sondern vielmehr als genetische Ableitung aller Inhalte des alltäglichen Bewusstseins. Sie dient dazu, das natürliche Bewusstsein zu erklären. Die Kritik dagegen erklärt die Metaphysik. Darum verhält sie “sich zur Metaphysik gerade so, wie diese sich verhält zur gewöhnlichen Ansicht des natürlichen Verstandes.” (Fichte, 1965, p. 159) Die Kritik spricht also eine Meta-Metasprache[8]. So wie sich die Metaphysik vom natürlichen Bewusstsein unterscheidet und es gleichzeitig voraussetzt, so unterscheidet sich die Kritik von der Metaphysik und setzt sie auch voraus. Folgenderweise kann die Kritik grundsätzlich erst dann realisiert werden, wenn die Metaphysik bereits entwickelt ist (vgl. Baumanns, 1974, pp. 103-104).
Wie ist es trotzdem möglich, dass Kants Kritik der reinen Vernunft vor der Entwicklung eines gelungenen metaphysischen Systems entstehen konnte? Dafür gibt es laut Fichte zwei Gründe. Erstens ist vieles in diesem Werk in Wahrheit nicht Kritik, sondern Metaphysik, so kann das, was wirklich Kritik in ihr ist, sich auf diese Metaphysik beziehen und – wie sie soll – eine Kritik der Metaphysik verwirklichen. Fichte meint, dass eine solche Vermischung von Metaphysik und Kritik bei Kant – aber ebenso bei den “bisherigen Bearbeitungen der Wissenschaftslehre” (Fichte, 1965, p. 160) – unvermeidlich ist, denn die hier angesprochene Metaphysik ist nicht die Philosophie des von uns unabhängigen Seins, sondern des Seins für uns. Diese “ungewöhnliche Denkart” durfte “nur durch Hülfe der beigeführten kritischen Winke […] sich einigen Eingang versprechen.” (Ebd.) Kants Werk und die Wissenschaftslehre unterscheiden sich in dieser Hinsicht lediglich in den Proportionen. Während Ersteres mehr Kritik in sich hat, enthält Letzteres mehr Metaphysik. Der andere Grund, warum Kant ein Buch mit dem Titel Kritik der reinen Vernunft schreiben konnte, bevor er sein System der Metaphysik entwickelt hatte, liegt darin, dass er auch das, was eigentlich Metaphysik ist, als Kritik bezeichnet (Fichte, 1977, p. 193). Diese Begriffsverwirrung ergibt sich aus der Analogie zwischen der eigentlichen Arbeit der Metaphysik und der Kritik. Während die Metaphysik das natürliche Bewusstsein untersucht, befasst sich die Kritik mit dem künstlichen Bewusstsein, das beim philosophischen Nachdenken über das natürliche Bewusstsein entsteht (zum Beispiel, wenn ich an die Wand denke und dabei über das Denken an die Wand nachdenke). Die ungenügend sorgfältige Trennung der daraus resultierenden doppelten Reihe des Bewusstseins führt laut Fichte bei Kant zu einer Vermischung von Metaphysik und eigentlicher Kritik.
Wenn wir die beiden Reihen des Bewusstseins nicht vermengen, wird Kritik immer als Kritik der Metaphysik erscheinen. Natürlich ist die Metaphysik nicht einfach ein Bericht über den Verlauf des Bewusstseins, sondern ein System, da das, was sie beschreibt, eine eigene Ordnung hat, die in der Natur des Ichs wurzelt – deshalb geht es in dem Grundsatz des Systems um das Ich. Wenn der Philosoph seine Arbeit richtig macht, wird das Ergebnis seiner Tätigkeit auch ohne die Hilfe der Kritik zu einem System. Kritik ist also weder mit dem philosophischen System, noch mit seiner Propädeutik gleich. Sie ist eine dritte Reihe neben den beiden Reihen des natürlichen Bewusstseins, bzw. des künstlichen, transzendentalphilosophischen Bewusstseins. Für die “sich als Metaphysik ankündigende Wissenschaftslehre” (Fichte, 1965, p. 160) kann die Kritik nur zwei Arten von Nutzen bringen. Sie kann zunächst “das Verhältniß der Wissenschaftslehre zu dem gemeinen Wissen, und zu den auf dem Standpunkte desselben möglichen Wissenschaften, der Materie des Wissens nach” darstellen. Darüber hinaus kann sie helfen, “einen richtigen Begriff [d]es Systems zu erzeugen, dasselbe gegen Misverständnisse zu schützen, und ihm Eingang zu verschaffen” (Ebd.). Um das zu leisten, betrachtet die Kritik “das Verhältniß des transscendentalen Denkens zu dem gemeinen der Form nach, d.h. [sie beschreibt den Gesichtspunkt], aus welchem der transscendentale Philosoph alles Wissen erblickt, und seiner Gemüthsstimmung in der Speculation.” (Ebd.)
Da Fichte – wie er meint – seine Wissenschaftslehre auf das Ich als in ihrem Grundsatz erfasste selbsttragende, unbedingte Grundlage stützen kann und bei der Entwicklung seines Systems nicht auf die Kritik als Propädeutik angewiesen ist, besteht nach Kants Ansicht die Gefahr, dass er die Grenzen überschreitet, die die Kritik für metaphysische Untersuchungen setzt. Deshalb sagt Kant in der Erklärung, dass er “wenig gestimmt” ist, an der “Metaphysik nach Fichte's Principien […] Theil zu nehmen.” (Kant, 1799, AA XII: 370) Doch gerade die aus diesen Prinzipien ausgehende Metaphysik führt Fichte im Zuge der kontinuierlichen Verbesserung der Wissenschaftslehre zu einer Erkenntnis, von der er füglich sagen kann: “wäre [Kant] dies klar geworden, so wäre seine K[ri]t[i]k W[issenschafts]L[ehre] geworden.” (Fichte, 2006, p. 90)
Bibliographie
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Notas