ARTÍCULOS
Das Aufheben des Lebens im Begriff. Künstlichkeit und Verwandlung bei F. H. Jacobi
Revista de Estudios Kantianos. Publicación internacional de la SEKLE
Universitat de València, España
ISSN-e: 2445-0669
Periodizität: Semestral
vol. 8, num. 1, 2023
Empfangen: 13 April 2023
Akzeptiert: 11 Mai 2023
Resümee: In Briefe an Fichte (1799) wirft Friedrich Heinrich Jacobi der Spekulation vor, dem Nihilismus zu verfallen. Dabei betont er das Künstliche des wissenschaftlichen Verfahrens, das den Dualismus abschafft. Mit Anspielungen auf die alchimistische, poetische und die sophistische Kunst wird die ontologische Tragweite der Wissenschaft hinterfragt, denn „Selbst von unserem eigenen Daseyn haben wir ein Gefühl; aber keinen Begriff“. Im vorliegenden Artikel rückt die Frage nach der Imitation in den Mittelpunkt, weil der Logos und das Seiende das verborgene Hauptproblem sind. Die wissenschaftliche Operation besteht darin, das natürliche Seelenauge als unkörperliches Wahrnehmungsorgan auszustechen und die Menschen in Polypheme zu verwandeln.
Schlüsselwörter: Jacobi, Fichte, Kant, Nihilismus, Künstlichkeit, Sophistik.
Abstract: In the present article we pursue the question of the relation between speculation and life. In his letters to Fichte (1799), Friedrich Heinrich Jacobi accuses speculation of falling into nihilism. In doing so, he emphasizes the artificiality of the scientific process, which abolishes dualism. With allusions to alchemical, poetic, and sophistical art, the ontological scope of science is questioned, for "Even of our own existence we have a feeling; but no concept." The question of imitation comes into focus because logos and being are the main hidden problem. The scientific operation consists in cutting out the natural soul-eye as an incorporeal organ of perception and in transforming the human beings into Polyphemus.
Keywords: Jacobi, Fichte, Kant, Nihilism, Artificiality, Sophistic.
Destruktion und Konstruktion als Nacherfinden
In Briefe an Fichte (1799) wirft Jacobi die Frage nach dem Nihilismus auf, und stellt das Verhältnis von Spekulation und Leben in Frage. Fichtes Verteidigung des transzendentalphilosophischen Systems ist „kühn“; er behauptet nämlich, dass es „als bloßes Mittel zum Zweck der Erkenntnis des Lebens […] eines genuinen Inhalts“ entbehrt, und „Es arbeitet darüber hinaus an seiner eigenen Abschaffung […]“ (Sandkaulen, 2019a, S. 214-215). Gerade das Erkenntnisverfahren der Wissenschaft rückt Jacobi mit seinem Einwand in den Mittelpunkt. Mit Anklängen an die Gewissheit des cartesischen Cogitos und an die Locksche Deutung der primären Qualitäten wird von Jacobi die wissenschaftliche Abstraktion als „Operation“ des Verstandes dargestellt, wobei die Qualität auf „Größe, Lage und Bewegung“ restlos zurückgeführt, d. h. „objektiv vernichtet“ wird.
Die Construction eines Begriffes überhaupt ist das a priori aller Constructionen; und die Einsicht in seine Construction giebt uns zugleich auf das gewißeste zu erkennen, daß wir unmöglich begreifen können, was wir zu construiren nicht im Stande sind. Darum haben wir von Qualitäten, als solchen, keine Begriffe; sondern nur Anschauungen. Selbst von unserem eigenem Daseyn haben wir ein Gefühl; aber keinen Begriff (JWA 2, 1: 230).
Der Gegenstand wird als Ganzes bei diesem hermeneutischen Vorgang ontologisch, ursprünglich vernichtet. Die Nihilismus-Kritik galt „der Vernichtung ursprünglicher Realität, auf der das Konstruktionsgeschäft basiert“ (Sandkaulen, 2019a, S. 215). Schon in den Spinozabriefen (1785, 1789) hat Jacobi betont, dass unser Verstehen darauf hinausläuft, das Universum zu „zerreißen“, aufzulösen oder zu zergliedern[2]. Aber diese gedankliche Aufhebung der wirklichen objektiven Welt geht mit der Erschaffung einer neuen subjektiven Welt einher, die unseren Fähigkeiten angemessen ist („Vernichtend lernte ich erschaffen“ [JWA 2, 1: 203; „Destruction und Construction“, JWA 2, 1: 198]). Beide Aspekte hängen in diesem wissenschaftlichen Prozess eng zusammen. „Wir verstehen, was wir auf diese Weise zu erschaffen vermögen. Begreifen heißt objectiv – als für sich bestehend – in Gedanken aufheben, vernichten, um es durchaus subjectiv, unser eigenes Geschöpf – ein bloßes Schema – werden zu lassen“ (JWA 2, 1: 201-202).
Mit Bezug auf platonisches Gedankengut erklärt Jacobi, dass wir eine „Bilder-Ideen und Wort-Welt“ erschaffen, die der wirklichen ganz „unähnlich“ ist. Dabei wird die Kluft zwischen der intelligiblen Welt der Ideen und den künstlichen Bildern oder Worten hervorgekehrt, obwohl eine gewisse Ähnlichkeit oder Analogie zwischen beiden wohl vorausgesetzt wird.
Der menschliche Geist muss, „um in das Reich der Wesen einzudringen, um es mit dem Gedanken zu erobern, Welt-Schöpfer, und – sein eigener Schöpfer werden“ (JWA 2, 1: 202). Um die Welt zu begreifen, kann der Mensch nicht umhin, den göttlichen Logos nachzuahmen. Dabei muss er „sich dem Wesen nach vernichten, um allein im Begriff zu entstehen, sich zu haben“ (JWA 2, 1: 202). Durch das Aufheben im Begriff kann der Mensch als Ich sich selbst im Griff haben. Das Ich der Wissenschaftslehre entsteht im Begriff „ursprünglich – aus Nichts, zu Nichts, für Nichts, in Nichts“ (JWA 2, 1: 202). Diese Wiederholung hebt das sinnlose Mechanische dieses Verfahrens hervor, das sich ausschließlich auf sich selbst bezieht. Im Gegensatz zu dem lebendigen Logos fehlt dabei jeglicher Absicht oder Zweck. Die Bewegungen des Lebens sind zweckorientiert, aber bei Fichte besteht das immanente Individuum aus lauter Pendelbewegungen der Reflexion. In den Spinozabriefen (1785, 1789) wird die spinozistische Lehre als konsequentes Denken herausgestellt, wobei die Dinge aus ihren Ursachen begriffen werden. Wenn wir einen Gegenstand begreifen, dann stellen wir uns seine Bedingungen der Reihe nach vor. Was wir hergeleitet haben, stellt uns „einen mechanischen Zusammenhang“ dar (cf. Koch, 2021). Mit dem Mechanismus der Natur meint Jacobi „jede nothwendige Verkettung“, also alles „was nach dem Gesetze der Causalität in der Zeit nothwendig erfolgt“ (JWA 2, 1: 230). Er weist auf Kant (KpV AA V: 97) hin, der schon „das geheime Angriffsziel von Jacobis Briefen über die Lehre des Spinoza“ ist (Hindrichs, 2021, „Nihilismus“ in Jacobi und Kant, S. 146). Der Rückgriff auf Spinoza erlaubt die ontologische Interpretation der Transzendentalphilosophie, die als „ein nihilistisches Denken“ entlarvt wird. Da Fichte seine Philosophie als eine Radikalisierung des transzendentalen Denkens begreift, sieht sich Jacobi durchaus berechtigt, „die Ontologisierung der Transzendentalphilosophie zu ihrer Pointe“ zu führen (Hindrichs, 2021, S. 147).
Jacobi greift humorvoll auf das Gleichnis eines Strickstrumpfes zurück, um „das Resultat des Fichtischen Idealismus“ (JWA 2, 1: 203) darzustellen. Er stellt sich ironischerweise vor, was Fichte auf den Vorwurf der Abstraktion hätte antworten können, um „die neue Philosophie“ (JWA 2, 1: 205) zu verteidigen.
Was sind alle Strümpfe, […] gegen die Einsicht in ihre Entstehung; gegen die Betrachtung des Mechanismus, durch welchen sie ÜBERHAUPT hervorgebracht werden; gegen das Nacherfinden im Allgemeinen und immer Allgemeineren ihrer Kunst: ein Nacherfinden, durch welches die Kunst selbst, als eigentliche Kunst, zuerst erschaffen wird (JWA 2, 1: 205).
Die philosophische Kunst ist ein Nacherfinden. Das Verfahren ist wichtiger als der hergestellte Gegenstand, als das hervorgebrachte Individuum. Auf die Einsicht in den mechanischen künstlichen Schaffensprozess kommt es primär an, und nicht auf einen besonderen Gegenstand. Die neue Philosophie musste also zuerst „die Kunst selbst“ erschaffen, bzw. sich selbst in Kunst überhaupt verwandeln. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass diese Kunst immer allgemeiner wird, oder zu einer Verallgemeinerung notwendig führen muss, weil das Ich dazu neigt, „ihre Schranken aufzuheben um die Unendlichkeit auszufüllen“ (JWA 2, 1: 204), obwohl es unmöglich und widersprüchlich ist, „Alles, und zugleich Eins und Etwas zu seyn“ (JWA 2, 1: 204). Diese neue Philosophie stellt sich „der alten irgend einen Dualismus so oder anders zum Grunde legenden Philosophie“ (JWA 2, 1: 204) entgegen. Die völlig immanente Kunst schafft den alten Dualismus ab; und Jacobi unterstreicht, dass es sich infolgedessen, um ein Handeln, bloß um des Handelns willen, handelt.
Die Abschaffung des Dualismus
Um den Gegenstand in Gedanken aufheben zu können, muss der Mensch ihn in „ein bloßes Schema“ verwandeln, d. h. zu einem Produkt unserer Einbildungskraft werden lassen. Dabei betont Jacobi, dass es sich um ein künstliches Vorgehen handelt. Jacobi geht von der Gewissheit zweier Sätze aus: „Ich bin, und es sind Dinge außer mir“ (JWA 2, 1: 194). Der Geist der spekulativen Philosophie besteht darin, die „dem natürlichen Menschen gleiche Gewißheit dieser zwey Sätze“ „ungleich zu machen“, mit anderen Worten den Dualismus abzuschaffen. Die Spekulation versucht entweder alles aus dem ersten Satz herzuleiten oder aus dem zweiten. Entweder unterwirft sie die Materie „einer sich selbst bestimmenden Intelligenz“ (JWA 2, 1: 194) (Idealismus), oder sie unterwirft die Intelligenz „einer sich selbst bestimmenden Materie allein“ (JWA 2, 1: 194) (Materialismus), um alles zu erklären. Die Gleichheit beider Sätze ist dem Menschen natürlich, aber die Wissenschaft macht sie ungleich, indem sie danach strebt, eine Einheit daraus hervorzubringen. Sie setzt „das Ungleichmachen“ so lange fort, „bis aus der Zerstörung jener natürlichen eine andere künstliche Gleichheit deßselben [Jacobi unterstreicht]“ (JWA 2, 1: 194) entspringt.
Jacobi betont, dass diese durch die Wissenschaft errungene Einheit „eine ganz neue Creatur“ (JWA 2, 1: 194) ist. Es ist ja nicht nur ein methodologischer Neuanfang, und die Methode steht nicht neutral der Ontologie gegenüber (JWA 2, 1: 194; cf. Haag, 2021)[3]. Der Spekulation gelingt es, dem göttlichen Geiste ähnlich zu wirken, und eine absolute Identität des Objekts und Subjekts zu erzielen. Mit Fichte muss sich, laut Jacobi, der spekulative Materialismus in Idealismus verklären, „denn außer dem Dualismus ist nur Egoismus, als Anfang oder Ende – für die Denkkraft, die ausdenkt“ (JWA 2, 1: 195). Schon der Spinozistische Monismus bereitete diese übernatürliche Verklärung vor. Jacobi greift auf das Bild eines philosophischen Cubus zurück, um einen Materialismus ohne Materie, oder eine Mathesis pura darzustellen, „worin das rein – und leere Bewußtseyn den mathematischen Raum vorstellt“ (JWA 2, 1: 195). Bei Spinoza liegt dem ausgedehnten sowie dem denkenden Wesen die Substanz zum Grunde, ja sie verbindet beide unzertrennlich. Bei Fichte findet man diese Substanz als absolute Identität des Objekts und Subjekts wieder, worauf das System „der unabhängigen Philosophie der Intelligenz“ (JWA 2, 1: 195) beruht. Der transzendentale Idealismus ist eigentlich ein umgekehrter Spinozismus. In der Beylage C setzt sich Jacobi mit Schelling auseinander und sagt, dass Platon „als Dualist“ sich „den Sophisten, als folgerechten Antidualisten überall“ entgegensetzt (JWA 3: 135). Auf die sophistische Kunst kommen wir noch zurück.
Die alchimistische Kunst und das poïen
Interessant ist dabei der ironische Verweis auf die Alchimie. Hätte Spinoza den Kubus umgestellt, d. h. die oberste Seite, die Seite des Denkens zu der untersten, der subjektiven, formellen gemacht, so hätte sich seine Lehre „unter den Händen“ (JWA 2, 1: 195) in den transzendentalen Idealismus verwandelt.
[…] das Cubische, was ihm bisher Substanz gewesen: die Eine Materie zweyer ganz verschiedener Wesen – wäre vor seinen Augen verschwunden; und aufgelodert wäre dafür eine reine, allein aus sich selbst brennende, keiner Stätte, wie keines nährenden Stoffs bedürfende Flamme: Transscendentaler Idealismus! (JWA 2, 1: 195).
Ähnlich wie in einem Laboratorium handhabt der spekulative Philosoph eine kubistische Gestalt, aber Stätte und Stoff sind nicht mehr vonnöten. Mit Hinweis auf Kant zeigt Jacobi in Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen, und der Philosophie überhaupt, eine neue Absicht zu geben (1802), dass die Künstlichkeit ambivalent sein kann. Kants Lehre sei halb empirisch, halb a priori. „Grade einer solchen Amalgation von künstlicher Zweydeutigkeit hat es größentheils seine Gunst und die zahlreiche Schaar fortwährend standhafter Freunde zu danken“ (JWA 2, 1: 269). Kants alchemistische Kunst vermag widersprüchliche Elemente zu amalgamieren, indem sie zwischen Empirismus und Idealismus schwebt. Diese „künstliche Zweydeutigkeit“ ist auch eine Schreibkunst, der sowohl die empirischen als auch die idealistischen Leser ein geneigtes Ohr leihen. Die „Chamäleonsfarbe“ (JWA 2, 1: 269) des Kritizismus ist zwar sein Grundgebrechen, aber auch ein großer Vorteil, weil er scheinbar ausgewogen ist. Mit Fichte zeichnet sich die Geschichte der Metaphysik als eine Kunst aus, die der alchemistischen nicht unähnlich ist, wobei der Philosoph untersucht, ob sein Kubus „ihm die einzige wahre philosophische Gestalt der Sache bliebe“ (JWA 2, 1: 195). Der Fichtesche transzendentaler Idealismus will die Sache selbst, d. h. die „Gestalt der Sache“ offenbaren, die Form der Wirklichkeit. Das liegt eigentlich nicht nur an der Fichteschen Philosophie, sondern an dem Begreifen überhaupt.
Alle Menschen, in sofern sie überhaupt nach Erkenntniß streben, setzen sich, ohne es zu wißen, jene reine Philosophie zum letzten Ziele; denn der Mensch erkennt nur indem er begreift; und er begreift nur indem er – Sache in bloße Gestalt verwandelnd – Gestalt zur Sache, Sache zu Nichts macht (JWA 2, 1: 201).
Die „Construction“, d. h. die gedankliche Verwandlung der Sache in eine Gestalt ist das einzige Mittel, sie zu begreifen. Dabei macht Jacobi deutlich, dass die Gestalt selbst zur Sache wird. Die Wissenschaftslehre kann einer solchen Formulierung des Erkennens zustimmen, weil das Wissen bildhafter Natur ist. Durchdringt man die schematische, bildhafte Natur reflexiv, so kann man den Realitätsbezug des Wissens fassen (Ivaldo, 2004, S. 60). Dabei wird übersehen, dass Jacobi die ontologische Bedeutung dieses Machens selbst hervorhebt, bzw. das poïen, das Poetische. Im Brief an Fichte weist Jacobi auf Friedrich Schlegel hin, der ihm vorgeworfen hat, nur scheinbar Fichtes Philosophie zu folgen. Schlegel hat
[…] mit Wahrheit behauptet, daß ich nur ein geborner Philosoph und ein zufälliger Schriftsteller sey, unfähig irgendwo, geschweige überall, die Gestalt allein zur Sache zu machen, wie es seyn sollte, weil dieses Machen selbst alles in allem, und außer ihm Nichts sey (JWA 2, 1: 197).
Mithilfe der Fichteschen Alleinphilosophie wird die Poetik absolut. Ungeachtet der Tatsache, dass der Mensch ein zeitbedingtes Wesen ist, läuft „dieses Machen selbst“ auf eine Erschaffung ex nihilo hinaus. Mit Bezug auf die Rezension von seinem Roman Woldemar spricht Jacobi von der Schlegelschen „poetisch philosophischen Methode“, die darin besteht, „Erst den Schriftsteller aus dem Menschen; alsdann wieder den Menschen aus dem Schriftsteller herzuleiten“ (JWA 2, 1: 198, Fußnote 2). Mit anderen Worten, der Künstler wird zuerst aus dem lebendigen Individuum, und dann wieder das lebendige Individuum aus dem Künstler deduziert. Jacobi dagegen gibt sich „unfähig irgendwo, geschweige überall, die Gestalt allein zur Sache zu machen“, weil es ihm an „logischem Enthusiasmus“ (JWA 2, 1: 196-197) mangelt. Schlegel habe seine „Individualität“ (JWA 2, 1: 197) von dieser Seite gut gefasst. Das Problem des Individuums steht im Mittelpunkt der Diskussion.
Das Zeichen und der künstliche Glaube
Dass Schlegel ein „überschwenglicher Jünger“ (JWA 2, 1: 196) der Fichteschen Wissenschaftslehre sei, sollen wir nicht nur psychologisch verstehen, sondern auch als Charakterisierung der Alleinphilosophie, die eine Bekehrung zu einer reinen selbsttätigen Logik fordert, wobei der Stoff, der Ort, die Zeit, kurz alle materiellen Bestimmungen verklärt werden. Die Transzendentalphilosophie ist bestrebt, den Materialismus mit dem Idealismus, die Materie mit der Form zu vereinigen, beide „zu Einem untheilbaren Wesen“ (JWA 2, 1: 196) zu machen. In dieser Hinsicht beansprucht die neue Philosophie eine Macht, die in Konflikt mit der Offenbarung – in theologischem Sinne – gerät. Daher Jacobis zahlreiche ironische Anspielungen auf die Bibel. Die Vereinigung zu einem Wesen sei ein Zeichen, „nicht ganz unähnlich jenem des Propheten Jonas“ (JWA 2, 1: 196). Die philosophische Kunst, die Gestalt zur Sache zu machen, gibt uns ein Zeichen, dass es möglich ist, eine übernatürliche Macht künstlich zu erstreben, „eine ganze Welt aus Nichts zu erschaffen in Gedanken“ (JWA 2, 1: 195). Die neue Philosophie, ähnlich wie die Geometrie oder die Arithmetik, bringt zwar keine Substanzen oder keine Zahlenbedeutung, d. h. „das Werth seyende“ (JWA 2, 1: 196) hervor. Es sei also sinnlos, der Philosophie Atheismus vorzuwerfen. Aber dieses philosophische Zeichen bedeutet ein Versprechen, eine Zuversicht, das Wert seiende hervorbringen zu vermögen, als wäre die menschliche Natur verwandelt, ja als würde die Vernunft mit diesem neuen philosophischen Geist getauft. Jacobi zieht eine Parallele zwischen dem Logos und dem logischen Enthusiasmus. Er präsentiert sich als Heide, und verwendet einen theologischen Ausdruck, um seine Ungläubigkeit an diese philosophische Verwandlung („eine neue Creatur“ [JWA 2, 1: 196; „eine ganz neue Creatur“ JWA 2, 1: 194]) kundzutun. Er spricht nämlich von seiner „Unfähigkeit oder Verstockung“ (JWA 2, 1: 196). Die Philosophie kann man nicht des Atheismus zeihen, da die Wissenschaft strenggenommen „so wenig atheistisch seyn kann, als es Geometrie und Arithmetik seyn können“ (JWA 2, 1: 192). Aber die spekulative Philosophie scheint „Gott auf der That des an sich Nicht-Daseyns“ (JWA 2, 1: 193) erhascht zu haben. Diese Wissenschaft gibt den Anschein, als würde sie einen neuen einzigen Theismus einführen, und als könne Gott gewusst werden. Gemäß dem logischen Enthusiasmus spitzt Jacobi die theologische Logik der Transzendentalphilosophie zu, und zeigt auf, wie sie als Wissenschaft allein dadurch philosophisch gelten kann, wenn sie Gestalt zur Sache und Sache zu Nichts macht, um „überhaupt zu einem Realen“ (JWA 2, 1: 193) verwandelt zu werden. Gott wird erst real, wenn Er aufgehoben wird.
Ein nur künstlicher Glaube an Ihn ist aber auch ein unmöglicher Glaube; denn er hebt, in sofern er blos künstlich seyn will – oder bloß wissenschaftlich, oder rein vernünftig – den natürlichen Glauben, und so mit, sich selbst, als Glauben; folglich den ganzen Theismus auf (JWA 2, 1: 193).
Jacobi plädiert für eine sorgfältige und behutsame Unterscheidung zwischen dem Theismus und der Wissenschaft, denn sobald Gott gewusst werden kann, wird einen künstlichen Glauben, d. h. etwas Unmögliches gefordert (cf. Goretzki, 2021). In Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811) beruft sich Jacobi auf den Platonischen Theismus, der seiner Meinung nach diese Scheidung berücksichtigt. „Allein der ächte Theismus, der Platonische, ist mit Nichten ein solcher Verführer, sondern im Gegentheil gibt allein Er im strengsten Verstande und ohne irgend einen Abbruch, der Wissenschaft was der Wissenschaft, und Gott oder dem Geiste, was Gottes und des Geistes ist“ (JWA 3: 90).
Das Bild und der Begriff des Unbedingten
Anhand des platonischen Unterschiedes zwischen dem Bild/ Abbild und dem Urbild/ Musterbild macht Jacobi deutlich, dass das Wort und das Wesen verwechselt werden, und damit eine künstliche Einheit bei der Reflexion hervorgebracht wird. Jacobi bezieht sich auf Platon – vor allem den Sophistes, aber er weist auch auf den Kratylos und den Theaitetos hin –, um zwei verschiedene Einheiten zu unterscheiden, die aus dem denkenden Wesen ausgehen. Einerseits die Einheit, welche der Verstand mit dem Vielen und Verschiedenem, also dem Uneinen, „durch Begriff und Wort“ erzeugt, und andererseits das Eine, das sich in der Vernunft, „dem Geistesbewußtseyn, der Seele“ offenbart, „welches das Eine selbst (τὸ ἓν αὐτὸ)“ ist (JWA 3: 133; cf. Platon, Sophistes, 245a – c.). Wenn man nicht zwischen der Einheit des Verstandes und dem Einen selbst, das sich der Vernunft unmittelbar offenbart, unterscheidet, dann überredet man sich „alles mit Worten machen zu können“ (JWA 3: 133). Aus der Vermischung von dem obersten Begriff im Verstande, dem Begriffe des Grundes, mit dem obersten Begriff in der Vernunft, dem Begriff der Ursache, ergibt sich eine künstliche Einheit, die ein trügerischer Schein ist. Der Begriff der Ursache, „des in sich Seyenden und allein aus sich hervorbringenden des unerschaffenden Schaffenden“ (JWA 3: 133) ist der Begriff des absolut Unbedingten (Sandkaulen, 2000, S. 262). Mit Bezug auf Kant meint Jacobi, dass der Verstand die Ursache leugnet, die über dem Grunde ist, weil er das Unbedingte nur als einen Widerspruch denken kann (KrV, B XX). Wir können hinzufügen, dass das Unbedingte des Verstandes das apeiron ist, das Unbestimmte oder Unbegrenzte (cf. Platon, Philebos, 32 a). „Das leere Chaos, die Ungestalt, das durchaus Unbestimmte (Platon und die Pythagoräer nannten es das Unendliche) ist das Unbedingte, das Absolute des Verstandes“ (JWA 3: 112). Jacobi zeigt, dass die Verallgemeinerung oder die Abstraktion eine Folge der Vermischung der Ursache mit dem Grunde ist, und dass diese zwangsläufige Tendenz zum Unbestimmten, sich der Individuation oder dem Einzelnen und Bestimmten im Leben widersetzt.
In Jacobis Augen ist eigentlich der Freiheitsbegriff „der wahre Begriff des Unbedingten“, und in unserer Freiheit haben wir „ein Analogon des Uebernatürlichen“ (JWA 1, 1: 262; cf. Schick, 2019, S. 479). „Die Metaphysik ist genuinerweise kein spekulatives Projekt. Sie wurzelt im Gegenteil in der ausgezeichneten Praxis menschlichen Handelns“ (Sandkaulen, 2000, S. 261; cf. Schick, 2022, S. 482-487). In Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811) zeigt Jacobi auf, wie die Idee des Unbedingten in ein Ideal verwandelt wird. Der wahre Begriff der Ursache kann allein aus der Vernunft werden, d. h., „aus dem Gefühl des: Ich bin, ich handle, schaffe, bringe hervor“ (JWA 3: 110). Der Naturbegriff wäre ein bloß „erdichteter Begriff“, wäre er „geschieden vom Begriff eines Uebernatürlichen“ (JWA 1,1: 345; cf. Koch, 2021, S. 119-120), einer unbedingten Tätigkeit. Die Schellingsche Naturphilosophie schafft den Dualismus ab, indem sie die Selbstständigkeit der Natur verkündet. Dabei gilt es, sich von einem Übernatürlichen zu befreien. „Befreyung also der Natur von einem Uebernatürlichen, der Welt von einer Ursache außer und über ihr, mit einem Wort, Selbstständigkeit der Natur, wurde die Losung dieser neuen Weisheit“ (JWA 3: 77). Jacobi will aber zeigen, dass die Vernunft dem Verstande die Idee des Unbedingten als eine Voraussetzung bei allem Bedingten aufdrängt. Und der Verstand, der schließlich auf „die Vernunft“ gegründet ist, ruht auf diesem „Gefühl“.
Scheinbar rettet sich der Verstand aus dieser Verworrenheit, wenn er der Idee des Unbedingten die objective Gültigkeit ab-, und eine blos subjective an-streitet. Alles im menschlichen Erkenntnißvermögen wird mittels einer solchen künstlichen Verwandlung des Unbedingten, aus einem Realen in ein blos Ideales, von Grund aus umgekehrt; die Vernunft ist zu Verstande gebracht; es beginnt die Philosophie des absoluten Nichts (JWA 3: 110).
Die Subjektivierung des Unbedingten, die Verwandlung eines Realen in ein Ideales ist ein künstlicher Vorgang, der einem Bedürfnis nach Erklärung und Klarheit entspricht. Diese künstliche Verwandlung des Unbedingten bringt die Vernunft als unmittelbares Wahrnehmungsvermögen zu Verstande. Jacobi analysiert, wie bei dieser Verwandlung das objektive Natürliche zuerst vertilgt wird, und dann künstlich wieder auftaucht, wobei das Übernatürliche imitiert wird.
Auf die erste, folgt nämlich unmittelbar eine zweite Verwandlung, die das Subjektive wieder in ein Objektives verwandelt, „so daß wie zuvor das Wahre täuschend verkehrt wurde zum Gedicht, nun das Gedicht wieder täuschend verkehrt wird zum Wahren“ (JWA 3: 111). Das Gedicht ist eine Fiktion, ein künstliches Produkt, das nach der letzten Verwandlung dem Wahren täuschend ähnlich sieht. In seiner Auseinandersetzung mit Kant hebt Jacobi hervor, dass „jeder Versuch die obersten Erkenntnisse als wahrhafte Erkenntnisse beweisen, das heißt, sie ableiten, oder auf etwas, das noch gültiger und wahrer sey zurückzuführen wollen“ (JWA 3: 86), auf ihre Vertilgung hinausläuft. Wollte man „wirkliches Daseyn“ beweisen, so müsste man etwas außer ihm finden, womit es sich belegen ließe, wie „der Begriff mit der Sache“, „ein Wirkliches außer dem Wirklichen, das mehr wirklich wäre als das Wirkliche, und doch zugleich auch nur wäre – das Wirkliche“ (JWA 3: 87).
Es gilt auch für die Demonstration des Daseins Gottes. „Denn die bloße Deduktion nur der Idee eines lebendigen Gottes aus der Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnißvermögens führt so wenig zu einem Beweise seines wahrhaften Daseyns, daß sie im Gegenteil […] auch den natürlichen Glauben an einen lebendigen Gott“ (JWA 3: 87) notwendig zerstört. Kant bleibt aber ambivalent, seine Lehre ist zwischen dem Geiste und dem Buchstaben geteilt. Einerseits vertraut Kant dem Leben, den positiven unmittelbaren Offenbarungen der Vernunft, aber andererseits besteht er darauf, „dieses rein offenbarte selbstständige Wissen in ein unselbstständiges aus Beweisen“ (JWA 3: 88), also ein künstliches Wissen zu verwandeln; „Kants Zwiespalt mit sich selbst“ entspricht einem Zwiespalt zwischen dem Menschen und dem philosophischen Wissenschaftler.
[…] jene Idee ein durchaus subjektives Erzeugniß des menschlichen Geistes, ein reines Gedicht ist, das er [der menschliche Geist] seiner Natur nach nothwendig dichtet, das darum auch vielleicht, aber höchstens nur vielleicht eine Dichtung des Wahren, und somit kein bloßes Hirngespinst; eben so sehr und wohl noch mehr vielleicht aber auch ein bloßes Gedicht, und somit wirklich nur ein Hirngespinst seyn kann (JWA 3: 87).
Jacobi unterstreicht Kants Zweideutigkeit und Lavieren, die den Spannungen zwischen der praktischen und der theoretischen Vernunft Rechnung trägt (cf. KrV, B 799/A 771). Als für möglich angenommene Gegenstände sind die Vernunftbegriffe „bloß problematisch gedacht“. Laut Jacobi erweist sich die Idee nicht als heuristische Fiktion, sondern im Endeffekt als Hirngespinst (cf. JWA 1, 1: 116; JWA 2, 1. 384)[4]. Darüber hinaus sind Natur und Kunst in Kants Kritizismus so eng miteinander verwoben, dass es schwer ist das Künstliche dabei zu sehen.
„Die Vernunft hingegen behauptet die Ursache, die über dem Grunde und ein ganz Anderes ist, weil sie in ihr allein lebet, webet und ist“ (JWA 3: 133; cf. Bibel, Apg. 18, 28). Jacobi spielt auf die Apostelgeschichte an, als Paulus in Athen mit einigen Philosophen, darunter Epikureer und Stoiker, stritt. Auf einem Altar fand er geschrieben: „Dem unbekannten Gott“, und so verkündete er auf dem Areopag den Athenern, was sie „unwissend“ verehren. Sie wollen wissen, was das für eine neue Lehre ist, die Paulus lehrt. „Denn in ihm [Gott] leben, weben und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: wir sind seines Geschlechts“ (Bibel, Apg. 18, 29). Paulus besteht darauf, dass die Gottheit nicht „gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht“ (Bibel, Apg. 18, 29) ist. Diese Bilder sind künstlich und werden gemacht. Ähnlich wie der Logos ist die Vernunft das Leben selbst. Paul setzt sich den Philosophen entgegen, die sich wie Sophisten verhalten (cf. Boulnois, 2022, S. 33-37). Er wirft ihnen „List“ (panourgia) vor, und Gottes Wort zu fälschen. Schon Platon prangerte die panourgia der Sophisten an (Protagoras, 317 b). Jacobi beruft sich auf Paulus, der den platonischen Gegensatz zwischen der Philosophie und der Sophistik unterstreicht (Boulnois, 2022, S. 40).
Wenn wir den Grund und die Ursache vermischen und verwechseln, dann tritt „nothwendig überall das Wort vor das Wesen; das Abbild, und des Abbildes trügerischer Schein vor das Urbild“ (JWA 3: 133). Eine künstliche Einheit ist das Resultat des philosophierenden Verstandes, wobei die Philosophie unmerklich der sich einschleichenden Sophistik verfällt. Die Schellingsche Naturphilosophie, „gleich den Zauberern“ (cf. Platon, Sophistes, 235 a – e; 239 c – 240 a), vermischt die Ursache mit dem Grunde und überredet „sich alles mit Worten machen zu können“. Dieses künstliche Machen lässt aber den Grund der Rede, den Logos selbst verschwinden: „in Wahrheit aber verliere ein solcher mit dem Grunde der Rede die Rede selbst; denn was er vorbringe, sey leerer Schall – Trug und Lüge“ (JWA 3: 133). Das Wort und der Begriff werden ein trügerischer leerer Schall, weil sie ohne Bezug auf das in sich Seiende und Bestehende sind. Jacobi vertritt die Auffassung, dass die platonische Ontologie missverstanden wurde. Die platonischen Ideen sind „keine blos logischen oder Nominalwesen, keine früher vorhandenen Wirklichkeiten, blos abgezogene Begriffe, die von diesen Wirklichkeiten alle ihre Wahrheit nehmen, und gar nichts wären ohne sie“ (JWA 3: 133). Jacobi behauptet, dass Kant wähnte, die Gattungen seien „die Folge einer logischen Täuschung“ (JWA 3: 133; KrV B 370; B 596). Die einzelnen wirklichen Wesen setzen die Arten als ihre Ursache, und die Arten setzen, auf gleiche Weise, die Gattungen oder die Ideen voraus. Die Ursache ist der Geist oder die Seele, die eine Absicht und einen Zweck verkünden.
Jacobi vergleicht die platonische Idee mit dem Gedanken eines ersten Erfinders. Das von ihm geschaffene Musterbild ist früher als „die Unendlichkeit der Nachbildungen nach dem im Musterbilde offenbarten Absicht und Regel“ (JWA 3: 133). Jacobi spielt wohl auf den Demiurg im Timaios an (Platon, Timaios, 28 a.). Das Musterbild ist ein Paradigma, wodurch die Vielheit entsteht. Das Eine selbst kann aber nicht vervielfältigt werden und bleibt „ewig nur das Eine“ (JWA 3: 134).
Alsdenn hat das Ungestaltete zwar Gestalt gewonnen, aber nur eine äußere, ihm fremde und aufgedrungene, keine innere um ihrer selbst willen vorhandene, keine ein Inwendiges äußerlich blos darstellende Gestalt, die sich selbst zu lieben und selbst zu erhalten fähig wäre (JWA 3: 134).
Die Gestalten tun einen schöpferischen Geist kund, aber sie sind nur „dem Geiste ähnlich“, also analogisch und äußerlich. Jacobi schildert eine lebendige schöpferische Wirklichkeit. Jede Gestalt strebt dabei nach dem Uneinen, d. h. durch Auflösung danach trachtet, in das Uneine, in die Vielheit wieder einzugehen. Der aus dem denkenden Wesen hervorgebrachte Gedanke beweist sich dagegen „als bildende Kraft in dem Ungebild, dem Nichtdenkenden, dem Leblosen“ (JWA 3: 134). Der lebendige Gedanke, der ein Paradigma erschaffen hat, erweist sich als eine bildendende und gestaltende Kraft, da sie nach dem Einen strebt. Abbilder, d. h. wirkliche Dinge werden dadurch erzeugt, aber es sind „Abbilder des in ihm [dem Uneinen] wohnenden Urbildes“ (JWA 3: 135). Der Mensch ist zwar ein denkendes Wesen, aber als erschaffenes Wesen vermag er diese Abbilder nicht zu beseelen. Es ist aber auch unmöglich, dass er als denkendes Wesen von dem absoluten Einen, von dem Archetyp schlechthin, nichts weiß. Die antidualistische Philosophie, bzw. die Schellingsche Naturphilosophie, behauptet, dass es das Seiende nicht gibt, sondern „es sey nur ein ewiges Werden“ (JWA 3: 135). Wegen der Vermischung des Grundes mit der Ursache musste das System der Naturphilosophie zu diesem Fazit kommen. In seiner Einleitung in des Verfassers sämmtliche philosophische Schriften (1815) kommt Jacobi auf das Verschwinden und die Leugnung des Einen und Seienden zurück.
Es war seit Aristoteles ein zunehmendes Bestreben […] das Urbild dem Abbilde, das Wesen dem Worte, die Vernunft dem Verstande unterzuordnen, ja in diesem jene ganz untergehen und verschwinden zu lassen. Nichts sollte fortan mehr für wahr gelten, als was sich beweisen, zweymal weisen ließe: wechselweise in der Anschauung und im Begriffe, in der Sache und in ihrem Bilde oder Worte; und in diesem nur, dem Worte, sollte wahrhaft die Sache liegen und wirklich zu erkennen seyn (JWA 2,1: 379).
Mit Bezug auf Kant unterscheidet Jacobi klarer als in seinen früheren Werken das Wahrnehmungsvermögen von dem durch Abstraktion bedingten Reflexionsvermögen. Die Vernunft hat zwar unterschiedliche Gestalten angenommen, aber Kant hat den „Proteus“ gefesselt (JWA 2,1: 380). Dieser „Reformator“ der platonischen Ideen hat gezeigt, dass man dem Verstande die Sinnlichkeit allein zum Grunde legte, und trotzdem vorgab, eine Erkenntnis sinnlicher Dinge zu erwerben, „blos durch fortgesetztes Abstrahiren und Reflectiren“ (JWA 2,1: 381). Was man Vernunft nannte, war eigentlich ein Vermögen auf solche Weise sinnliche Erkenntnisse zu übersinnlichen zu „steigern“ (JWA 2,1: 381) oder zu „erheben“ (JWA 2,1: 382), als könnte „das An-Sich-Wahre wirklich ergriffen“ werden.
Die Vernunft ist im Verstande theoretisch untergangen, aber sie kann „jenseits des Verstandes, praktisch wieder sich erheben“ (JWA 2,1: 381). Kant lässt „die blos scheintodte Vernunft jetzt aus ihrem künstlichen Grabe, es mit Gewalt durchbrechend, eigenmächtig wieder“ (JWA 2,1: 382) hervordrängen. Jacobi spielt ironischerweise auf die Wiederauferstehung an, um die Gewalt der Vernunft, bzw. des philosophischen Logos nach der theoretischen Kritik anschaulich zu machen. Das wiederaufstehende Leben der Vernunft hebt sich aus dem künstlichen Grab der Wissenschaft auf. Kant hat zwar praktisch dem Glauben einen leeren Platz gemacht, dennoch meint Jacobi, dass der Kritizismus die Sinnlichkeit so sehr reinigt, dass sie „die Eigenschaft eines Wahrnehmungsvermögens ganz verliert“ (JWA 2,1: 382). Jacobi wirft dem theoretischen Teil des kantischen Systems Nihilismus vor. In seiner Einleitung hat die Kritik eine allgemeine Tragweite:
[…] jede Philosophie, welche – dem Menschen ein der sinnlichen Anschauung nicht bedürfendes höheres Wahrnehmungsvermögen absprechend – allein durch fortgesetztes Reflectiren über das sinnlich Anschaubare und die Gesetze der Einbildungskraft desselben in den Verstand, sich von dem Sinnlichen zu dem Uebersinnlichen, von dem Endlichen zu dem Unendlichen zu erheben unternimmt […], sich nach Oben wie nach Unten zuletzt in ein klares und baares Nichts der Erkenntniß verlieren muß (JWA 2,1: 382).
Sich auf Platon berufend verteidigt Jacobi eine rationale Anschauung durch die Vernunft. Es geht eigentlich um ein Geistes-Gefühl. „Von dem, was wir wissen aus Geistes-Gefühl, sagen wir, daß wir es glauben. So reden wir Alle. An Tugend, mithin an Freyheit, mithin an Geist und Gott, kann nur geglaubt werden“ (JWA 2,1: 402-403). Er nennt die Vorstellungen des im Gefühle allein Gewiesenen Ideen. Die Vernunft-Anschauung unterscheidet qualitativ den Menschen vom Tiere. Das mit der Vernunft identische Vermögen der Gefühle ist „das unkörperliche Organ“ (JWA 2,1: 403) für die Wahrnehmungen des Übersinnlichen. Jacobis tut, als ob er mit Fichte übereinstimmen könnte, um seine eigenartige Auffassung des Wahren nahezulegen, die der Wissenschaft nicht zugänglich ist.
Soll es auf irgend eine Weise nur daßelbe bedeuten, so bleibt Empirie zuletzt doch oben, sich zur Wißenschaft verhaltend, wie die lebendigen Glieder zu ihren künstlichen Werkzeugen. Im menschlichen Geiste muß alsdann ein höherer Ort, als der Ort des wißenschaftlichen Wißens angenommen werden, und es wird von jenem auf diesen herab gesehen: ‚der höchste Standpunkt der Spekulation ist‘ dann nicht ‚der Standpunkt der Wahrheit‘ (JWA 2,1: 205).
Die Operation der Wissenschaft und das Leben
In der Vorrede (1815) beruft sich Jacobi außerdem auf Platon, um die Vernunft als Organ, bzw. als Seelenauge oder geistiges Auge zu legitimieren, im Gegensatz zum reflektierenden Verstande, der sich nur auf die Sinnenwelt und sich selbst bezieht, indem er Begriffe bildet. Jacobi besteht auf der Annahme zweier verschiedener Wahrnehmungsvermögen, „eines Wahrnehmungsvermögens durch sichtbare und greifbare, mithin körperliche Wahrnehmungs-Werkzeuge; und eines anderen, durch ein unsichtbares, dem äußeren Sinne auf keine Weise sich darstellendes Organ, dessen Daseyn uns allein kund wird durch Gefühle“ (JWA 2,1: 409). Es gibt körperliche Wahrnehmungsorgane, die als Werkzeuge bezeichnet werden, aber auch unkörperliche, die Jacobi Gefühle nennt. Sokrates und Platon haben erkannt, dass die menschliche Seele „beyder ihr verliehenen Augen bedürfe, darum sorgfältig sie bewahren und immer sie geöffnet halten müsse“ (JWA 2,1: 410). Platons Philosophie geht von dieser natürlichen Konstitution aus.
Nur einige unter ihnen, die sich Philosophen nannten, versuchten dieses Organs, des zweyten Seelenauges, zu entrathen, wähnend, es müsse sich mit nur Einem Auge das nur Eine Wahre schärfer und sicherer sehen lassen, als mit zweyen. Sie stachen wirklich das eine, dem Uebersinnlichen zugekehrte, Seelenauge sich aus, und fanden daß Ihnen nun in der That alles viel klarer und deutlicher da stehe als zuvor (JWA 2,1: 409-410).
Das trügerische Argument zugunsten dieses chirurgischen Eingriffs ist die Klarheit; es modifiziert und vereinfacht die natürliche Konstitution der menschlichen Seele, um deutlicher das Eine anzustreben. Jacobi spricht von Polyphemen, die sich einbilden, dass es „nur ein Scheinauge“ sei. Es gehe eigentlich um „ein krankes Doppelsehen des allein wirklich sehenden Auges“ (JWA 2,1: 410)[5]. Im Laufe der Zeit habe sich „nach der Operation“ die Natur des Menschen verändert, als sei es „jetzt auch nicht eine Spur mehr zu entdecken“ (JWA 2,1: 410). Jacobi zitiert Platons Politeia:
Es ward die Rede des Göttlichen überwunden von der Rede der vielen Anderen: ‚weil es eben so unmöglich ist, Seele, die das allein dazu geeignete Organ nicht mitbringen, die Erkenntniß des Wahren einzuflößen, als einem Augenlosen, durch Vorhalten von Gläsern das Gesicht‘ (JWA 2,1: 410; cf. Platon, Politeia, 518 c).
Im Urtext ist nicht von Gläsern die Rede, aber Jacobi unterstreicht damit das Künstliche und Vergebliche dieses Weges, um zu deutlichen Erkenntnissen zu gelangen. Die philosophische Erziehung setzt ein Hinwenden (periagoges) der ganzen Seele voraus, um das Wesen zu erblicken. In Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811) bezieht sich Jacobi gerade auf diesen Passus. Es sei unmöglich den Sophisten zu widerlegen, so Jacobi, weil „das an sich Wahre, Gute und Schöne, das er läugnet, nur ge-wiesen, nicht be-wiesen werden kann. Es kann aber gewiesen werden nur dem, der sich selbst willig hinwendet mit seinem ganzen Wesen nach der Seite, wo es allein gesehen wird“ (JWA 3: 135). Jacobi macht auf die sich bei der Demonstration einschleichende sophistische Kunst aufmerksam, weil „das Seyende“ das Hauptproblem ist. Der Sophist hat ganz Recht, wenn er wie Schelling behauptet, dass das Seiende nicht sei, „sondern es sey ein ewiges Werden“ (JWA 3: 135; cf. Platon, Theaitetos, 155 d – 156 b). Mit der Vernunft ist dem Menschen das Vermögen gegeben, das Wahre zu vernehmen. Jacobi zieht in seiner Einleitung (1815) den Theaitetos heran: „Ich horche aber der Sokratischen Warnung: einzulenken, ‘damit nicht immer neu Zuströmendes die erste Rede ganz verschütte‘“ (JWA 2, 1: 408; Platon, Theaitetos, 177 b – c). Sokrates meinte eigentlich, dass er zum Hauptthema zurückzukommen wünschte. Jacobi seinerseits hat wahrscheinlich das Leben und das Wirkliche im Sinne, das die wissenschaftliche Rede verschüttet. Schon in den Spinozabriefen hat er auf diesen Weg hingewiesen. „Nach meinem Urtheil ist das größeste Verdienst des Forschers, Daseyn zu enthüllen, und zu offenbaren … Erklärung ist ihm Mittel, Weg zum Ziele, nächster – niemals letzter Zweck. Sein letzter Zweck ist, was sich nicht erklären läßt: das Unauflösliche, Unmittelbare, Einfache“ (JWA 1, 1: 29). Das Unauflösliche und Einfache ist das Leben selbst, das enthüllt und nicht erklärt werden kann, da die Ideen nur gewiesen, und nicht bewiesen werden können[6].
Bibliografie
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Fußnote