SECCIÓN MONOGRÁFICA

Systematische Einheit. Kants Einleitung in die Kritik der Urteilskraft und ihre Rezeption bei Fichte

Günter Zöller
Ludwig-Maximilians-Universität, Alemania

Revista de Estudios Kantianos. Publicación internacional de la SEKLE

Universitat de València, España

ISSN-e: 2445-0669

Periodicidad: Semestral

vol. 8, núm. 1, 2023

p.ordenes.azua@gmail.com

Recepción: 04 Febrero 2023

Aprobación: 09 Marzo 2023



Schlüsselwörter: Transzendentalphilosophie, Wissenschaftslehre, Vernunft, Einheit der

Keywords: transcendental philosophy, doctrine of science, reason, unity of

1. Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus

Von den drei Kritiken Kants hat einzig die Kritik der Urteilskraft eine unmittelbare und breitere zustimmende Wirkung erfahren. Dagegen haben auf die ersten beiden Kritiken vor allem die Philosophen von Profession reagiert, und dies hauptsächlich in Form von Widerspruch und Widerlegung. Die Kritik der reinen Vernunft von 1781 wurde schon bald zum Streitobjekt polemischer Auseinandersetzungen von Seiten der spätaufklärerischen Popularphilosophie, des Neo-Leibnizianismus und des Spätwolffianismus sowie des anglo-schottisch geprägten Empirismus und Skeptizismus. Um die Kritik der praktischen Vernunft von 1788 entspannten sich sogleich subtile und innovative Kontroversen über Determinismus, Fatalismus und Eleutherismus.

Doch die Kritik der Urteilskraft von 1790 wirkte sofort und auch später immer wieder inspirierend und ermutigend auf Vernunftkünstler wie Naturforscher, auf dichtende Philosophen wie philosophische Dichter. War es zunächst der erste der beiden Teile der dritten Kritik, die „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ mit ihren Hauptthemen des Geschmacksurteils, des Naturschönen und des Dynamisch-Erhabenen, die allgemeines Interesse und breite Wirkung fand, so war es bald der zweite Teil des Werkes, die „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ mit ihren Überlegungen zu den Formen und Funktionen der belebten und unbelebten Natur und zur eigentümlichen Zweckmäßigkeit von pflanzlichen und tierischen Organismen, der das naturphilosophische und naturromantische Denken vor, um und nach 1800 animierte und orientierte.

Die doppelte ausserfachliche Rezeption der Kritik der Urteilskraft nach ihren beiden Teilen zeigt sich exemplarisch an der Aufnahme des Werkes durch die beiden Protagonisten der Weimarer Klassik. Schiller greift im Rahmen seiner kultur- und geschichtsphilosophischen Überlegungen zur „ästhetischen Erziehung des Menschen“ auf die Ausführungen der dritten Kritik zum Verhältnis von Schönem und Moralisch-Gutem zurück. Goethe rekurriert auf die Ausführungen der dritten Kritik zum Verhältnis von diskursivem und intuitivem Verstand für seine spinozistischen Überlegungen zum naturphilosophischen Methodenkonzept der „anschauenden Urteilskraft“ (Förster, 2002).

Beim späten Goethe ist sogar ein klares Bewusstsein über die Einheitsbildung der dritten Kritik jenseits ihrer Untergliederung in Kunst- und Naturphilosophie festzustellen, wenn er in einem Brief an Zelter vom 29. Januar 1830 erklärt:

Es ist ein grenzenloses Verdienst unseres alten Kant um die Welt und ich darf sagen, auch um mich, dass er in der Kritik der Urteilskraft Kunst und Natur nebeneinander stellt und beiden das Recht gibt, aus grossen Prinzipien zwecklos zu handeln (Goethe, 1967, p. 370).

Die Ausweisung der von Goethe der dritten Kritik ingesamt zugeschriebenen allgemeinen Prinzipienlehre von Kunst und Natur als „zwecklos“ nimmt historisch Kants Konzeption der ästhetischen Zweckmäßigkeit als funktional teleologisch ohne substantielles Telos („ohne Zweck“) auf und schliesst sachlich an die Verdrängung der Aristotelischen Naturteleologie durch das nomologische und morphologische Denken der modernen Naturwissenschaft und -forschung an.

Mit ihrer prinzipiellen Zusammenführung phänomenal getrennter Bereiche (Natur, Kunst; Anorganisches, Organisches; Mechanik, Teleologie; Idealismus, Realismus; Formalismus, Materialismus; Sinnliches, Übersinnliches) im Zeichen von nicht-linearer Kausalität („Zweckmässigkeit“) war die Kritik der Urteilskraft dafür prädestiniert, die philosophische Reflexion über Formen der Einheitsbildung unter Verschiedenem und sogar Gegensätzlichem zu initiieren und zu inspirieren. Zwar hatten sich bereits die erste und die zweite Kritik an der Einheitsbildung im allgemeinen und der Einheitsbildung der Vernunft in deren theoretischem und praktischem Gebrauch im besonderen abgearbeitet – im „Kanon der reinen Vernunft“ in der ersten Kritik und in den „Postulaten der reinen praktischen Vernunft“ in der zweiten Kritik. Doch galt die Zusammenführung von theoretischer, speziell spekulativer, und praktischer, speziell moralischer, Vernunft in den ersten beiden Kritiken nicht der ursprünglich-einheitlichen Wurzel der Vernunft, sondern deren finaler Zusammenführung von Wissensvernunft und Wollensvernunft im theoretisch-praktisch gemischten Modus der Antwort auf Frage „Was darf ich hoffen?“ durch die quasi-doktrinale („praktisch-dogmatische“) Lehre vom ursprünglichen wie abgeleiteten höchsten Gut.

Erst die dritte Kritik und insbesondere deren kapitale Einleitung ergänzt die finalistische Vernunfteinheitskonzeption der ersten und der zweiten Kritik um eine mediatisierende Einheitskonzeption im Rückgriff auf ein verbindendes Drittes zwischen Naturalem und Supranaturalem, zwischen Verstand und Vernunft, zwischen Erkennen und Begehren – ein funktionales Dritten in der dreifachen Grundgestalt als Technē- oder Kunst-Fiktion, als reflektierende Urteilskaft und als heautonomes Lustgefühl. Während die beiden Hauptteile der dritten Kritik eine ursprünglich nicht vorgesehene Erweiterung und Ergänzung der Natur- und Freiheitsphilosophie der ersten beiden Kritiken um die kritische Grundlegung der Gefühlsästhetik und der Naturteleologie enthalten, bietet die den beiden Hauptteilen gemeinsame Einleitung – zusätzlich zur Einführung in die Themen, Thesen und Theoreme der Ästhetik- und Teleologie-Teile – eine teils rekapitulierend-reinterpretierende, teils programmatisch-prospektive Vorstellung von Leistung und Anspruch der Kritik-Trias, insbesondere der nach den sukzessiven Teilschritten der ersten und der zweiten Kritik nunmehr endlich erreichten und für endgültig erachteten kritischen Konzeption der Philosophie im Ganzen wie in ihren wesentlichen Bestandteilen (Deleuze, 1984; Zocher 1949).

Der systematisch-architektonische Anspruch der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft zeigt sich schon im Umstand, dass deren Erstfassung, die von Kant wegen ihres zu grossen Umfangs für die Verwendung in der Kritik der Urteilskraft verworfen wurde, in einer leicht überarbeiteten und geringfügig gekürzten Fassung 1794 durch J. S. Beck unter dem Titel „Ueber Philosophie überhaupt“ erscheinen konnte (Klemme, 2006, Mertens, 1975). Die zur programmatischen philosophischen Systemskizze deklarierte alte, sog. Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft erschien in Becks Version im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts in mehreren Nachdrucken, bevor der Text durch Otto Buek für die von Ernst Cassirer besorgte Kant-Ausgabe vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in der originalen Textgestalt publiziert wurde (Kant, 1912-1918).

Doch nicht nur die Erstfassung der Einleitung der Kritik der Urteilskraft trägt die Züge einer philosophischen Systemskizze. Auch die in die dritte Kritik aufgenommene, nur wenig kürzere Fassung skizziert eine philosophische Systematik – und dies gleich in mehrfacher Hinsicht (Euler, 2018). Kant präsentiert seriatim: zunächst das kritische System, das aus den drei Kritiken besteht; sodann das doktrinale System der Philosophie, das zweiteilig angelegt ist und die Philosophie der Natur und die Philosophie der Freiheit umfasst; des weiteren das logische System der Vernunft, das ebenfalls dreiteilig konzipiert ist und aus Verstand, Urteilskraft und Vernunft besteht; darüber hinaus das psychologische System der Gemütskräfte, dessen wiederum dreiteilige Anlage Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögen umfasst; und schliesslich das zweiteilige kosmologisches System der sinnlichen und der übersinnlichen Welt.

Zusätzlich zu den zwei- und dreiteiligen Dispositionen umfasst die mehrfach gestufte philosophische Systematik der Einleitung der Kritik der Urteilskraft noch die gesetzlich geregelten Interferenzen der verschiedenen zwei- und dreigliedrigen Divisionen mit einander. Insbesondere gilt das für die Prinzipienfunktion der Vernunft in ihrer dreifachen Ausgestaltung als naturgesetzgebender Verstand, als sichselbstgesetzgebende Urteilskraft und als moralgesetzgebende Vernunft zum Zweck der apriorischen Normierung des Erkenntnisvermögens, des Gefühls der Lust und Unlust und des Begehrungsvermögens in deren jeweiligem nicht-empirischen („höheren“) Gebrauch. Auch das Wechselverhältnis von moralisch-vernünftig fortzubestimmender Sinnenwelt und die Bestimmungsvorgaben dazu bereithaltender übersinnlicher Welt gehört in die System-Systematik der Einleitung der dritten Kritik.

Allerdings hat Kant selbst von den in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft vorgesehenen zwei Teilen der Vernunftphilosophie nur die rein-praktische Philosophie ausgeführt – in Gestalt der Metaphysik der Sitten von 1797 mit ihren beiden Teilen, den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre“ und den „Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre“, denen eine die beiden Werkteile umfassende Einleitung beigegeben war, zusätzlich zu den Einzeleinleitungen in die Rechts- und die Tugendlehre. Die ebenfalls in Aussicht gestellte Metaphysik der Natur hat Kant nur ansatzweise und partiell geliefert – in den frühen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1783), die nur die Prinzipienlehre der äußeren, räumlichen ausgedehnten materiellen Natur liefern, und in den Bemühungen des sog. Opus postumum um den methodisch-doktrinalen Übergang von den Metaphysik der (äusseren) Natur zur eigentlichen, mit empirisch gegebenen Inhalten apriorisch operierenden Physik.

Doch hat die gestufte und verschränkte philosophische Systematik der Einleitung der Kritik der Urteilskraft über Kants eigenes Werk hinaus bei seinen Nachfolgern gewirkt – und dies durch Zuspruch wie Widerspruch, mittels Imitation wie Irritation. Das gilt zunächst für die paarige Anlage der nachkantischen Philosophie als Naturphilosophie und Geistphilosophie korrelativ zur Unterscheidung zwischen Natur und Freiheit. Es gilt sodann für die Anbindung der nachkantischen Systemarchitektur der philosophischen Disziplinen an die doppelt-dreifache Disposition der Vernunft- und Gemütsvermögen. Und es gilt schliesslich für die nachkantischen Bemühungen um die je einheitliche Verfassung der Vernunft, der Subjektivität und der Welt wie um deren umfassende absolut-ursprüngliche Einheitsverfassung. Die einschlägigen Ansätze finden sich bereits in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft der Kritik der Urteilskraft im Verlauf der frühen, mittleren und späteren 1790er Jahren. Während sich die ersten Nachkantianer, allen voran K. L. Reinhold, primär an der Kritik der reinen Vernunft orientieren, geht die mehrphasige und vielgestaltige Systembildung bei Fichte und Schelling und, über diese vermittelt, bei Hegels (ab 1800), ganz wesentlich auf Anregungen und Herausforderungen der dritten Kritik zurück (Zöller, 2006).

Erweist sich dergestalt die Kritik der Urteilskraft ganz generell und speziell deren Einleitung als die Keimzelle der nachkantischen Philosophie im allgemeinen und des deutschen Idealismus im besonderen, so scheint es angezeigt, den fiktiven Titel des ersten Systemprogramms des deutschen Idealismus, den Franz Rosenzweig 1917 einem jüngst entdeckten, in Hegels Handschrift überlieferten kurzen und überdies fragmentarischen Text, der mit den Worten „eine Ethik“ unvermittelt einsetzt (Hegel, 1979, pp. 234-237), verliehen hatte, alternativ auf die Einleitung der dritten Kritik zu beziehen. Diese Umwidmung scheint umso angezeigter, als Kants einschlägiger Text ganze sieben Jahre älter ist als die auf 1797 zu datierende Hegel-Handschrift.

Doch auch unabhängig von Kants Kandidatur für die Verfasserschaft des eigentlichen ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus steht die beträchtlich später zu datierende Hegel-Handschrift in Konkurrenz zu einem weiteren zeitlich früheren Anwärter auf den Erstlingstitel des Systemprogramms des deutschen Idealismus. 1794 veröffentlicht Fichte für sein unter dem Neologismus „Wissenschaftslehre“ angekündigtes kantisch-nachkantisches System der Philosophie eine Programmschrift unter dem Titel Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Wie die vier Jahre frühere Einleitung der Kritik der Urteilskraft – und abweichend von der systemarchitektonisch ganz anders dimensionierten mysteriösen Hegel-Handschrift – enthält Fichtes Begriffsschrift, die inhaltlich weitgehend übereinstimmt mit seinen Zürcher Privatvorlesungen zur Einleitung in die Philosophie vom vorangegangenen Winter 1794, den Abriss einer kombinierten Prinzipien- und Gegenstandslehre des Wissens im Ausgang von dessen Erstprinzip, dem „Ich“ qua rein-absolutem Ich.

Dagegen rekurriert der anonyme Autor der Hegel-Handschrift drei Jahre später weder auf Fichtes Ichlehre aus der Begriffsschrift von 1794 noch auf die daran anschliessende Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794/95 und auch nicht auf die Vernunftvermögenslehre der Einleitung der Kritik der Urteilskraft von 1790. Stattdessen übernimmt der Anonymus der Hegel-Handschrift die Konzeption des postulatorischen Denkens im Ausgang von ethisch-moralischen Ressourcen und im Ausgriff auf theoretisch-dogmatische Fragestellungen, die Kant in der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ der Kritik der praktischen Vernunft von 1788 speziell für die vernunfttheoretischen Aufgabenstellungen von Gottesexistenz und Seelenunsterblichkeit entwickelt hatte.

Daran anschliessend hatte schon Fichte – in der Grundlage des Naturrechts von 1796/97 – das Methodenkonzept der Vernunftpostulate von dessen bei Kant vorliegender exklusiven Anbindung an die Ausgangsevidenz des moralischen Selbstbewusstseins und dem alleinigen Abzielen auf zwei spezialmetaphysische Vernunftgegenstände (Gott, Seele) gelöst und ganz generell auf das Vorausssetzungsverhältnis zwischen dem zu ermöglichenden Selbstbewusstsein und seinen denknotwendigen materialen Bedingungen in Gestalt von physischer Aussenwelt und psycho-physischer Mitwelt bezogen – nach dem Reflexionsmuster: wie muss eine Welt für ein mögliches Selbstbewusstsein beschaffen sein, oder vielmehr: wie ist eine solche Welt als so beschaffen zu denken?

Der Anonymus der mysteriösen Hegel-Handschrift geht noch über Fichte hinaus, wenn er das neu zu begründende System der „Metaphysik“ in „Ethik“ oder „Moral“ gründen lässt, um daraus der Reihe nach das „Ich“, die moralische „Welt“, die physische Welt („Physik“) und die politische Welt („Staat“) im Rahmen eines „System[s] aller praktischen Postulate“ herzuleiten und dieses in der „Idee der Schönheit“ kulminieren zu lassen, wodurch die Philosophie in Poesie („Dichtung“) zurücküberführt werden soll. Abschliessend entfaltet die anonyme Systemskizze dann noch das Verhältnis von zur Dichtung zurückgekehrter Philosophie und philosophisch ambitionierter Dichtung in dem ebenso spätaufklärerischen wie frühromantischen Projekt einer exoterisch-populären Vernunftreligion („Mythologie der Vernunft“, „neue Religion“). Für das politisch-philosophische Projekt einer Fusion von Volk und Vernunft dürften Fichtes Überlegungen zur gesellschaftspolitischen Aufgabe der Philosophie in seiner frühen Veröffentlichung Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten von 1794 ebenso Anregungen geliefert haben wie Rousseaus Einführung der Zivilreligion (religion civile) am Schluss des Contrat social von 1748.

Der auf drei Texte aus den Jahren 1790, 1794 und 1797 angewachsene Kandidatenkreis für den Titel des „ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus“ liesse sich sogar mit guten Gründen auf vier erhöhen durch den Einbezug eines ebenfalls nur fragmentarisch überlieferten knappen Textes von Hölderlin, der Skizze Urtheil und Seyn (oder Seyn und Urtheil, je nachdem, welche Seite des Doppelblatts man als die erste ansieht), die auf 1794/95 zu datieren ist (Hölderlin, 2020, p. 7f.). Zwar enthält Hölderlins programmatische Skizze keinen Entwurf einer philosophischen Systemarchitektonik, wohl aber die Umrisse einer philosophischen Prinzipienlehre entwickelt in kritischer Auseinandersetzung mit dem 1794 erschienen ersten Teil von Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, der die drei absolut ersten Grundsätze des Wissens als solchem enthält. Insbesondere präsentiert Hölderlins kurzer, aber prägnanter Text wegweisende Überlegungen zum Verhältnis von ursprünglicher, unvordenklicher Einheit („intellectuale Anschauung“) und logischer, bewusst-gewusster Teilung („Urtheil“), die über den frühen Fichte hinaus auf die weitere Entwicklung des deutschen Idealismus vor und nach 1800 vorausweisen.

2. Trichotomie als transzendentale Synthesis

Die Überraschungskandidatur der Einleitung der Kritik der Urteilskraft für den Ehrentitel des ersten Systemprogramms des deutschen Idealismus rückt nicht nur die Nähe von Kants programmatischen Überlegungen von 1790 zu den um einiges späteren einschlägigen Ausführungen seiner Nachfolger, samt der Nachfolger seiner Nachfolger, heraus. Der Vergleich mit Fichtes, Hölderlins und Schellings korrespondierenden Überlegungen lässt auch das Spezifische und Charakteristische von Kants frühem Beitrag zur Debatte deutlich hervortreten. Formal gesehen und struktural erwogen ist allen Versuchen, einschliesslich dem Kants, gemeinsam, dass Vielfalt und Einheit von Wissen – von dessen Prinzipien wie deren Gegenständen – erwogen werden. Während aber in den nachkantischen Ansätzen der Rekurs auf eine absolut-ursprüngliche, allererste Einheit diesseits aller Differenz, Disjunktion und Division im Vordergrund steht, die unter Titeln wie „Ich“, „Thathandlung“, „intellectuelle Anschaung“ (auch „intellectuale Anschauung“) und „Subject-Object“ zur Sprache kommt, ist bei Kant eine gewisse skeptische Scheu vor der Absolutsetzung eines Einen unabhängig von dem Vielen, zu dem es die Einheit bildet, festzustellen.

Historisch betrachtet nehmen die nachkantischen radikal vereinheitlichenden Systemskizzen die programmatische Initiative von Reinhold auf, der Pluralität von Prinzipien bei Kant den absolut-ersten Grundsatz samt der Systematik seiner Entfaltung in ein ganzes Prinzipiengeflecht voranzustellen. Freilich sind die Kant über Reinhold Nachfolgenden, allen voran Fichte, nicht einverstanden mit der substantiell simplistischen und methodisch dubiosen Identifikation des gesuchten Urprinzips mit dem generisch-abstrakt extrahierten „Satz des Bewusstseins“. Systematisch gesehen steht das monistische Gegenprogramm der Nachkantianer zu Kants Prinzipienpluralismus in einer henologischen Tradition der klassischen Metaphysik – vom späten Platon über den spätantiken Neuplatonismus bis zum reduktiven Monismus der Vorstellungskraft (vis repraesentativa) in der deutschen Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts. Kants Kritik an letzterem und seine damit gegebene implizite Kritik am nachkantischen Neo-Monismus ist dem diesem Beitrag vorangestellten Zitat zu entnehmen.

Noch in anderer Hinsicht unterscheidet sich Kants Systemprogrammatik, wie sie ausser in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft auch in einigen seiner früheren Veröffentlichungen, darunter insbesondere der Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787) und den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (1783), vorliegt, von den Systemskizzen und skizzierten Systemen seiner Nachfolger der ersten und zweiten Generation. Bei Fichte, Hölderlin und Schelling steht die lineare Herleitung („Deduktion“) von Prinzipien, wenn nicht auseinander, so doch nach einander, im Mittelpunkt des Interesses. Die Linearität der Prozedere trägt in den Systemaufbau der Nachkantianer einen quasi-zeitlichen, narrativen Zug, der den Entwicklungsgang der Dinge wie des Wissens um die Dinge artifiziell konstruiert oder vielmehr rekonstruiert. Dagegen ist die programmatische Systematik bei Kant primär topisch – ein Gerüst von Grundbegriffen und Gegenstandsprinzipien, das die weitere, spätere Ableitung von anderem informieren und dirigieren soll.

Besonders prononciert ist die als Topologie angelegte Systematik bei Kant in den sukzessiven Übersichtsschemata („Tafeln“) der ersten Kritik und der Prolegomena, in deren Zentrum die komplex disponierte Systematik der reinen Verstandesbegriffe („Tafel der Kategorien“) steht (KrV A 80/B 106; Heidemann, 1975). Sie erschöpft sich, anders als die blosse Enumeration der Kategorien bei Aristoteles („Rhapsodie“), nicht in der Auflistung von logisch-ontologischen Super- oder Metaprädikaten, sondern ordnet die zwölf puren Verstandesbegriffe unter vier Hauptgesichtspunkte („Titel“) zu je drei Grundaspekten („Momente“), die überdies in der geometrischen Gestalt eines auf seine Ecken hin ausgerichteten Quadrats (diamantförmig) angeordnet sind und dabei einer durchlaufenden vierfachen Zählung von der oberen Position über die beiden Mittelpositionen zur unteren Position unterzogen werden. Das kategoriale Schema ist bei Kant verbunden mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, der weder Vermehrung noch Verminderung der zwölf konstitutiven Bestandteile zulässt. Im weiteren Argumentationsverlauf der ersten Kritik und der Prolegomena fungiert dann das Primärsystem der Kategorien, das seinerseits allerdings noch der Herleitung aus der formal parallelen, aber sachlich vorrangigen Systematik der Urteilsformen („Urteilstafel“) unterliegt („metaphysische Deduktion“), zur Aufstellung weiterer Subsysteme („Tafeln“) im Rahmen der schrittweise expandierenden philosophischen Systematik, darunter dem System der obersten Grundsätze, dem der Begriffe des Nichts und dem der Ideen der reinen (spekulativen) Vernunft (Zöller, 2001).

Die Einleitung in die Kritik der Urteilskraft erweitert die sukzessiven System-Topiken der ersten Kritik und der Prolegomena um eine horizontal wie vertikal ausgerichtete und wegen ihrer Proportionierung quer zum Blatt gedruckte „Tafel der oberen Seelenvermögen“ (KU, AA 05: 198),[3] die – wohl auch aus drucktechnischen und buchbinderischen Gründen – ganz am Ende der Einleitung platziert ist. Die vier je dreigliedrigen Kolumnen der darin artikulierten Vermögenssystematik spezifizieren nach einander zunächst die drei (oberen) Gemütsvermögen (Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust, Begehrungsvermögen), sodann die drei (oberen) Erkenntnisvermögen (Verstand, Urteilskraft, Vernunft), des weiteren die drei korrelierten apriorischen Prinzipieninbegriffe (Gesetzmässigkeit, Zweckmäßigkeit, Endzweck) und schliesslich die korrelierten drei Anwendungsfelder (Natur, Kunst, Freiheit). Jede Kolumne ist so aufgeführt, dass ihre drei vertikal subordinierten Elemente zugleich horizontal in ihrer jeweiligen Zusammengehörigkeit mit den korrespondierenden Elementen der übrigen Kolumnen gelesen werden können.

Kants Ausweis der Tafel zu Ende der Einleitung der Kritik der Urteilskraft als einer „Übersicht aller oberen Vermögen ihrer systematischen Einheit nach“ (KU, AA 05: 197) macht deutlich, dass er unter „systematischer Einheit“ nicht die reduktiv-monistische Herausstellung eines ursprünglichen Einen hinter Vielem versteht, sondern die durch systematische Verknüpfung erzielte, oder vielmehr nachgewiesene, komplexe Einheit von Vielem. Wie schon die Urteils- und die Kategorientafel der ersten Kritik ist die Vermögenstafel der dritten Kritik aus viermal drei Subeinheiten zusammengesetzt. Abweichend von der diamantförmigen Darstellung der zwölf Urteilsformen- und Kategorientitel, ist das schematische System der Vermögensformen tabellarisch angelegt. Die graphische Realisierung durch Querdruck hat ihren Vorläufer in der Systematik der „praktische[n] materialen Bestimmungsgründe im Princip der Sittlichkeit“ (KpV, AA 05: 69) in der Kritik der praktischen Vernunft. Doch ist diese quergestellte Übersicht nicht tabellarisch, sondern klassifikatorisch angelegt und gliedert die (allesamt aussichtslosen, weil material bestimmten) Kandidaten für das Moralprinzip zunächst nach subjektiven und objektiven und dann jeweils wieder nach inneren und äußeren Bestimmungsgrößen.

Die distinkte (und in Kants Werk wohl auch unike) tabellarische Anlage der Tafel am Ende der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass Kant zwar die jeweilige prinzipielle Dreiteilung aller aufgeführten Kolumnen für endgültig hält, nicht aber die absolute Zahl der Kolumnen, bei denen sich man eine Erweiterung oder Kürzung vorstellen könnte, solange die ersten beiden Kolumnen mit ihrer Zuordnung der drei Gemütsvermögen zu den drei Vernunftvermögen erhalten bleiben. So wäre etwa die Anfügung einer fünften Kolumne zu den jeweiligen Formen der Gesetzgebung vorstellbar, innerhalb derer dem Gemütsvermögen des Erkennens und seinem Vernunftvermögen des Verstandes der Gesetzgebungsmodus der Heteronomie, dem Gemütsvermögen des Gefühls der Lust und Unlust und seinem Vernunftvermögen der Urteilskraft die Heautonomie und dem Gemütsvermögen des Begehrens und seinem Vernunftvermögen der Vernunft (im engeren Sinne) die Autonomie zugeordnet wären. Verglichen mit der vergleichsweise offenen Form der horizontalen Dimension der Tafel aus der dritten Kritik, ist die vierfache Gliederung der Urteils- und Kategorientafel in der ersten Kritik geschlossen – was Kant durch deren ringförmige Anordnung wiedergibt.

Aus systemlogischer Perspektive ist an der Tafel der dritten Kritik auch nicht die Zwölfzahl der aufgeführten Elemente oder deren Konstitution aus viermal je drei Kolumnen von Interesse, sondern die Dreizahl der jeweiligen Vermögens- und Funktionsmomente: Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust, Begehrungsvermögen; Verstand, Urteilskraft, Vernunft; etc.. In einer ausführlichen Anmerkung zur Vermögenstafel am Ende der Einleitung der Kritik der Urteilskraft (KU, AA 05: 198 Anm.) stellt Kant eine weitreichende systemlogische Reflexion an zur Zentralität und Operationalität des Verfahrens der Trichotomie in philosophischen Begründungsgängen und Ordnungszusammenhängen. Die Anmerkung bezieht sich speziell auf die Arten der Einteilung in der erfahrungsfreien, „reinen“ Philosophie, in der, so Kant, sämtliche Einteilungen entweder nach dem Widerspruchsprinzip dichotom ausfallen und analytisch etabliert werden oder trichotom und diskursiv („aus Begriffen a priori“) durch die erfahrungsfreie Vereinigung von Verschiedenem („synthetische Einheit“) zustandekommen.

Die apriorische Synthesis beschreibt Kant dabei als logisches Prozedere von der Bedingung zum Bedingten und von da zu deren Vereinigung in einem dritten Begriff:

Man hat es bedenklich gefunden, daß meine Einteilungen in der reinen Philosophie fast immer dreiteilig ausfallen. Das liegt aber in der Natur der Sache. Soll eine Einteilung a priori geschehen, so wird sie entweder analytisch sein, nach dem Satze des Widerspruchs; und da ist sie jederzeit zweiteilig (quodlibet ens est aut A aut non A). Oder sie ist synthetisch; und wenn sie in diesem Falle aus Begriffen a priori (nicht, wie in der Mathematik, aus der a priori dem Begriffe korrespondierenden Anschauung) soll geführt werden, so muß nach demjenigen, was zu der synthetischen Einheit überhaupt erforderlich ist, nämlich 1) Bedingung, 2) ein Bedingtes, 3) der Begriff, der aus der Vereinigung des Bedingten mit seiner Bedingung entspringt, die Einteilung notwendig Trichotomie sein (KU, AA 05: 197).

Den in der Kritik der Urteilskraft herausgestellten sachlogischen Zusammenhang von Synthesis, Einheit und Triplizität erörtert Kant bereits in der Kritik der reinen Vernunft bei Gelegenheit der Vorstellung der Kategorientafel. Insbesondere geht es ihm dort um eine Begründung für die Dreizahl der Kategorien unter den vier Kategorientitel oder „Klassen“ der Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Kant bemerkt zunächst die immer gleiche Dreizahl in jeder der vier Kategoriengruppen und sodann den Ursprung („entspringen“) der jeweils dritten Kategorie aus der Synthesis („Verbindung“) der beiden anderen:

Daß allerwärts eine gleiche Zahl der Kategorien jeder Klasse, nämlich drei sind, welches ebenso sowohl zum Nachdenken auffordert, da sonst alle Einteilung a priori durch Begriffe Dichtomie sein muß. Dazu kommt aber noch, daß die dritte Kategorie allenthalben aus der Verbindung der zweiten mit der ersten ihrer Klasse entspringt (KrV B 110; § 11; Textgestalt nach Kant 1998).

Während Kants Überlegung in der ersten Kritik zur Dreizahl der Kategorien in jeder der vier Katgorienklassen die doppelte Auffälligkeit der Abweichung vom dichotomischen Schema und den Ursprung der jeweiligen dritten Kategorie aus der Verbindung der ersten und zweiten lediglich verzeichnen, fügen seine einschlägigen methodologischen Reflexionen in der dritten Kritik dem allgemeinen Befund über Trichotomien in der reinen Philosophie noch eine logische Interpretation des triplizitären Schemas hinzu, die auch für die Dreizahl der Vermögen und ihrer jeweiligen Funktionsformen gelten soll. Der Ausweis des jeweils ersten Elements einer systematischen Trias als „Bedingung“, des zweiten Elements als „Bedingtes“ und des dritten als „Verbindung“ von Bedingung und Bedingten ist allerdings schwer mit dem Binnenverhältnis der drei Vernunftvermögen, der drei Gemütsvermögen oder der ihnen parallel laufenden übrigen beiden trichotomen Einteilungen in Kants Tabelle am Ende der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft in Einklang zu bringen. Wie wäre das Erkenntnisvermögen die Bedingung des Gefühls der Lust und Unlust als seines Bedingten, das zusammen mit seiner Bedingung den Begriff des Begehrungsvermögens ergäbe? Das Gleiche gilt für das angebliche Bedingungsverhältnis zwischen Verstand, Urteilskraft und Vernunft.

Auch die, nach den einschlägigen Passagen der ersten Kritik und der dritten Kritik dritte Stelle in Kants Druckschriften, an der das Prinzip der Trichotomie in der erfahrungsfrei-reinen Philosophie noch erörtert wird, bietet wenig Aufschluss über das beanspruchte generative Verhältnis zwischen den trichotomen Elementen im allgemeinen und der Vernunft- und Gemütsvermögentrias im besonderen. In § 113 von Kants gedrucktem Logik-Handbuch (der sog. Jaesche-Logik) unter der Überschrift „Dichotomie und Polytomie“ (Log, AA 09: 147f.) – sowie in korrespondierenden Stellen des Handschriftlichen Logik-Nachlasses (Refl 3030, 3031, AA 16: 622f.) und erhaltener Nachschriften der Logik-Vorlesungen (AA 24/1 und 24/2) – äussert sich Kant etwas ausführlicher zu den Arten der Einteilung von Erkenntnissen. Dabei kontrastiert er der rein analytisch, bloss nach dem Widerspruchsprinzip begründeten Dichtomie („Paritäten“), die ganz in das Feld der Logik fällt, zunächst ganz allgemein die Einteilung in „mehr als zwei Glieder“ („Polytomie“), die wegen der erforderlichen sinnlichen Anschauungen („Erkenntniß des Gegenstandes“) nicht in die (allgemein-formale) Logik gehört.

Doch unterzieht Kant in der Logik gleich danach die eigentlich ausserlogische, weil materialspezifische Polytomie einer allgemein-inhaltlichen, sozusagen transzendentallogischen Dichtomie. Er unterscheidet nämlich zwischen den Polytomien, die auf reiner Anschauung und denen die auf empirischer Anschauung gründen und weist erstere den apriorischen Konstruktionen der (reinen) Mathematik und letztere den klassifikatorischen Beobachtungen der Naturkunde („Naturgeschichte“) zu. Zusätzlich erwägt Kant dann noch in dem einschlägigen Paragraphen der Logik die weder auf reiner noch auf empirischer Anschauung, sondern lediglich auf Begriffen basierenden und diskursiv operierenden Einteilungen in der reinen Philosophie. Diese tragen, so Kant, sämtliche die Gestalt von Trichotomien und erfolgen „aus dem Princip der Synthesis a priori“ (Log, AA 09: 147). Die Funktionsweise solcher apriorischen Synthesen expliziert Kant dann, wie schon an der thematisch parallelen Stelle der dritten Kritik, ebenso knapp wie kryptisch, als Sequenz – oder vielmehr Konsequenz – von Bedingung, Bedingtem und deren Bedingungsrelation: „1) de[r] Begriff als die Bedingung, 2) das Bedingte, und 3) die Ableitung des letztern aus dem erstern“ (Log, AA 09: 147f.).

Insgesamt betrachtet vermischen sich so in den Überlegungen Kants zum systemarchitektonischen Prinzip der Trichotomie aus der ersten und der dritten Kritik sowie der Logik zwei wissenschaftstheoretische Ansätze: der formallogische Ansatz beim Bedingungsverhältnis („Bedingung“, „Bedingtes“), der insbesondere die Relation des jeweils ersten zum zweiten Element einer Trichotomie erfassen soll, und der von der zeitgenössischen Chemie inspirierte Ansatz beim Begriff der Verbindung oder Synthese („Synthesis“) (Lequan, 2000), der vor allem das Entstehen des jeweiligen neuen, dritten Elements aus der Verknüpfung der beiden ersten Elemente zum Ausdruck bringen soll. Beide Modellierungen belasten allerdings das zu begründende oder jedenfalls zu plausibilisierende Prinzip der Trichotomie in der (reinen) Philosophie mit gravierenden epistemischen Folgeproblemen. Beim formallogischen Modell von Bedingung und Bedingtem fehlt die materiale Spezifikation für das Verhältnis von Bedingung und Bedingtem im allgemeinen und für die Art des Übergang von der Bedingung zum Bedingten im besonderen. Beim chemischen Modell der Verbindung zweier heterogener Elemente zu einem genuin neuen Dritten fehlt die apriorische Verfügbarkeit des beanspruchten Fortgangs von zwei separat Vorgegebenen zu einem allererst herzustellenden Dritten.

Wenn so weder der Formalismus eines reinlogischen Konditionalverhältnisses noch der Empirismus einer chemischen Verbindungsbeziehung eine befriedigende Modellierung des Organisationsprinzips der Trichotomie in der reinen Philosophie bietet, sieht man sich zurückgeworfen auf Kants generelle Überlegungen zur Möglichkeit apriorischer Synthesis in der Transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft. Mit dem Kunstausdruck „mögliche Erfahrung“ bezeichnet Kant dort und an anderen einschlägigen Stellen seiner methodologischen Selbstreflexion eine Form des Rekurses auf Erfahrung, die diese nicht als gegeben annimmt, sondern in ihren Konstitutionskonditionen („Bedingung der Möglichkeit“) eruiert – eine ermöglichte Erfahrung oder vielmehr die prinzipielle Ermöglichung von Erfahrung. Das derart empirisierte Apriori ist nicht dies oder das einzelne Empirische, sondern das „Empirische überhaupt“ – ein generisches Empirisches, welches das selber Nicht-Empirische, aber anderes Empirisches Ermöglichende miteinschliesst, ja wesentlich umfasst (Zöller, 2017). An solchem Transzendental-Empirismus, der das Empirische ebenso transzendentalisiert, wie er das Transzendentale empirisiert, arbeiten sich die nachkantischen Idealisten ab bei ihren systematischen Versuchen, Formalität und Materialität, Apriori und Aposteriori spekulativ zu vermitteln und in seiner absoluten Identität zu denken.

3. Von der Trichotomie zur Quintuplizität

Besonders instruktiv für die nachkantisch-idealistische Auseinandersetzung um die Faktizität oder Genetizität des Methodenprinzips der Trichotomie in der erfahrungsfrei-reinen Philosophie um 1800 sind eine Reihe von Texten Fichtes aus dessen mittlerer Periode, insbesondere aus dem Jahr 1804. Zwar hatte schon der frühe Fichte die eigene nachkantische Form der Transzendentalphilosophie in produktiver Auseinandersetzung mit seinem faktischen Lehrer Kant entwickelt und dabei bereits den angeblich inkonsequenten, weil mit dogmatischen Resten belasteten Idealismus Kants kritisiert (Gardner, 2020; Zöller, 2019). Doch erst in den Texten des mittleren Fichte, vor allem in den fünf grossen Darstellungen der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1804-05 (WL 1804/I-III, WL 1805 [„Erlangen“] und Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre von 1804/05) liegt die Prinzipientheorie des Wissens in einer von dem Kantischen Vorbild gänzlich losgelösten Gestalt vor, die mit der expliziten Absetzung von den angeblichen Fehlleistungen des Vorläufers einhergeht.

Von besonderer Bedeutung für Fichtes reife Kantkritik ist ein kurzer handschriftlicher Text, der die detaillierteren, aber auch recht verstreuten Äußerungen Fichtes zu Kants kritisch-transzendentaler Philosophie sukzinkt zusammenfasst und pointiert artikuliert. Der programmatische Text liegt in zwei Fassungen vor, einem Brief an einen namentlich genannten Empfänger (Appia) datiert auf den 23. Juni 1804 (Fichte 1962-2012, III/5: 244-248)[4] und einem Aide-mémoire, das für Mme de Staël (1766-1817) im Hinblick auf deren Buchvorhaben über das geistige (literarische und philosophische) Leben im zeitgenössischen Deutschland gedacht ist (Fichte, 1962-2012, II/7, pp. 246-248.). Bedingt durch eine Reihe angefügter erläuternder Bemerkungen ist die Brieffassung des Textes etwas ausführlicher und deshalb kann deshalb als die Referenzversion für Fichtes knappe kantkritische Selbstinterpretation aus dem Jahr 1804 dienen.

In der Briefversion ist Fichtes Text überschrieben mit der Inhaltsanzeige „Aphorismen über das Wesen der Philosophie als Wißenschaft“. Die Version für Mme de Staël ist einfach „Aphorismen“ betitelt. Der Haupttext ist in beiden Versionen praktisch identisch. Die Version für Mme de Stael enthält noch einen kurzen Schluss. Die Briefversion ist mit einer knappen Einführung in Sinn und Zweck der „Aphorismen“ versehen, denen dann noch eine umfangreichere erläuternde Ergänzung folgt. Der „Aphorismen“ bzw. „Aphorismen über das Wesen der Philosophie als Wißenschaft“ betitelte Haupttext ist in fünf konsekutiv gezählte Absätze (Paragraphen, „§“) gegliedert. Auf Paragraph 2 folgt ein Corollarium, Paragraph 3 ist mit „Erläuternder Zusatz“ überschrieben. Der Gattungstitel “Aphorismen“ ebenso wie die Gliederung der Aphorismen in fortlaufend numerierte Paragraphen sind dem literarischen Vorbild von Fichtes früherem Lehrer an der Universität Leipzig, Ernst Platner (1744-1818), verpflichtet, dessen Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte in zwei Teilen 1776 und 1782 erschienen waren (überarbeitete Neuauflagen 1784 und 1793 bzw. 1800). Platners Aphorismen dienten Fichte auch als textuelle Vorlage für seine an den Universitäten Jena und Berlin regelmässig gehaltenen Vorlesungen über Logik und Metaphysik.[5]

Wie im Titel der Briefversion angezeigt, handeln die fünf Aphorismen des Fichte-Textes vom Wesen der Philosophie als Wissenschaft. Damit ist ein doppelter, strenger wie bescheidener, Anspruch verbunden: zum einen ist die in den „Aphorismen“ vorzustellende Form der Philosophie das Wissen in dessen spezifisch moderner, methodisch durchdrungener Gestalt als Wissenschaft, im Unterschied zu der vormodernen Tradition der Philosophie als Weisheitslehre; zum anderen bieten die „Aphorismen“ nicht die philosophische Wissenschaft selbst, sondern nur erst eine erste Einführung und allgemeine Einleitung in deren Wesen. Kantisch gesprochen gehören die „Aphorismen“ nicht schon zum „System“ der Philosophie, sondern zu dessen vorbereitender Grundlegung in Gestalt von „Kritik.. Anders als frühere im spezifisch präparatorischen und präliminaren Sinn „kritische“ Schriften Fichtes, darunter die Programmschrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre (Fichte, 1962-2012, I/2, pp. 107-172), operieren die „Aphorismen“ aber nicht im Horizont der frühen nachkantischen Debatte über die Grundsatzphilosophie, sondern im verwandelten Horizont der Auseinandersetzungen über das Wissen, das Absolute und das absolute Wissen beim mittleren Fichte, beim frühen Schelling und beim frühen Hegel aus den ersten Jahren des beginnenden 19. Jahrhunderts.

Vor dem Hintergrund der systemlogischen Überlegung in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft mit ihrem Prinzip der Trichotomie ist an Fichtes „Aphorismen“ deren Kombination von vorkantischem Dualismus, für Kant geltend gemachtem Prinzipientrinitarismus, von Fichte zum Zweck der Letztbegründung beanspruchtem Logos-Monismus und von Fichte für die Strukturierung der Wissenschaftslehre reklamierter systemarchitektonischer Pentatomie von Interesse. Zur leichteren Übersicht geben die folgenden Ausführungen die argumentative Abfolge der einzelnen, durchweg recht kurz gehaltenen Paragraphen der „Aphorismen“ in der Brieffassung wieder.[6]

Paragraph 1 identifiziert „Seyn“ qua objectum oder ens als den generischen Gegenstand der Philosophie, der historisch bis zu, und unter Ausschluss von, Kant nachzuweisen ist. Dabei rechnet Fichte ausdrücklich das „Bewußtseyn“ unter die gegenständlichen Wesenheiten der traditionellen Philosophie in deren objektivistischem Ausgriff auf alles Sein, unter Verweis auf die darin liegende Verdinglichung des Bewusstsein („[etwas] bewußtes“) durch objektivierende Titel wie “Geist” oder “Seele”. Als allgemeine Aufgabenstellung der objektivistischen – oder vielmehr alles objektivierenden – vorkantischen Philosophie bestimmt Fichte dabei den Aufweis des “Zusammenhang[s] der mannigfaltigen Bestimmungen dieses Seyns“.

Paragraph 2 der „Aphorismen“ benennt als das prōton pseudos der gesamten vorkantischen Philosophie, übersehen zu haben, dass kein Sein ohne Bewusstsein und umgekehrt auch kein Bewusstsein ohne Sein vorliegt. Dem entsprechend kann der Forschungsgegenstand der Philosophie, so Fichte, nicht im Sein bestehen, wie die vorkantische Philosophie explizit oder implizit annimmt, sondern nur in der „absoluten Einheit“ von Sein und Bewusstsein. Fichte schreibt die philosophiegeschichtliche Grosstat der „Entdeckung“ der absoluten Identität von Sein und Bewusstsein Kant zu und identifiziert Kants „Transzendental-Philosophie“ als die systematische Entfaltung dieser Einsicht, die damit primär im Erstprinzip der synthetisch-objektiven Einheit der Apperzeption oder des transzendentalen Selbstbewusstseins in der Kritik der reinen Vernunft zu lokalisieren wäre. In der alternativen Version der „Aphorismen“ für Mme de Staël verwendet Fichte für die Kant zugeschriebene Entdeckung das hapax legomenon „Transscendentalismus“ (Fichte, 1962-2012, II/7, p. 246), das auch bei Kant nicht nachgewiesen ist.

In einem Korollar zu Paragraph 2 stellt Fichte heraus, dass mit Kants revolutionärer Entdeckung die vorherigen Versuche, die Interaktion von Sein und Bewusstsein zu begründen, namentlich die Systeme von Descartes, Malebranche und Leibniz, sämtliche hinfällig geworden sind.

Der Paragraph 3 ergänzt den historischen Rückblick durch die Erinnerung, dass auch nach Kants Entdeckung der ursprünglichen Einheit die generelle Aufgabenstellung der Philosophie, die Verbundenheit der mannigfaltigen Bestimmungen des nunmehr als un- oder vorgegenständlich gefassten Gegenstandes der Philosophie nachzuweisen, bestehen bleibt.

Paragraph 4 stellt das erste Glied einer zweiteiligen vollständigen Disjunktion vor, die im Hinblick auf die Aufgabenstellung der Philosophie vorgenommen wird, die seit Kant darin besteht, die hauptsächlichen Bestimmungen der absoluten Einheit von Sein und Bewusstsein herzuleiten. Das erste Glied der Disjunktion besteht in der Voraussetzung „gewiße[r] Grundunterschiede” als in „empirischer Selbstbeobachtung“ gegründet und keiner weiteren Vereinheitlichung fähig. Die daraus resultierende Philosophie ist zwar wegen ihrer Voraussetzung der absoluten Einheit von Sein und Bewusstsein als genuin transzendental anzusehen, beinhaltet aber eine faktizistische Pluralität von Grundeinheiten, die nicht ihrerseits zu absoluter Einheit gebracht werden und in die darüber hinaus empirische Data eingehen. In Fichtes kritischer Einschätzung erfüllt der pluralistische und empiristische Typus der Transzendentalphilosophie, den er mit Kants Position identifiziert, aber nicht die rigorosen Anforderungen an eine „streng wißenschaftliche […] Philosophie“.

Den systematischen Zusammenhang von Pluralismus und Empirismus in der kantischen Transzendentalphilosophie erläutert Fichte in den beiden Versionen der „Aphorismen“ nicht näher. Er lässt sich aber den sachlich wie zeitlich parallelen Ausführungen des Zweiten Vortrags der Wissenschaftslehre aus dem Jahr 1804 entnehmen, in denen Fichte Kant eine dreifache kritische Philosophie („drei kritische Philosophien Kants“; Fichte, 1962-2012, III/5, p. 237)[7] im Hinblick auf eine dreifache Form der absoluten Einheit von Sein und Bewusstsein („Absolutes“) zuschreibt und vorwirft. Dabei wird jeder der drei Kritiken Kants eine spezifische Art von absoluter Einheit zugeschrieben – ein etwas artifizielles exegetisches Manöver auf Seiten Fichtes, das zu recht bizarren Zuschreibungen vor allem an die erste Kritik führt.

Im einzelnen beschreibt Fichte den angeblichen sukzessiven, bloß additiven statt integrativen chronologischen und systematischen Gang der drei Kritiken wie folgt:

Aber er [sc. Kant] begriff es [sc. das Band von Denken und Sein] nicht in seiner reinen Selbstständigkeit an und für sich […], sondern nur als gemeinsame Grundbestimmung oder Accidens seiner drei UrModificationen x, y, z […]. […] In der Kritik der reinen Vernunft war ihm die sinnliche Erfahrung das absolute (x) […]. In ihr [sc der Kritik der praktischen Vernunft] zeigte sich durch den […] kategorischen Begriff das Ich als etwas an sich […]; und wir hätten das zweite absolute, eine moralische Welt = z. […]; und es erschien die Kritik der Urteilskraft, und in der Einleitung […] das Bekenntniß, daß die übersinnliche und die sinnliche Welt, denn doch in einer gemeinschaftlichen Wurzel, zusammenhängen müßten, welche Wurzel nun das dritte absolute = y, wäre“ (Fichte, 1962-2012, II/8, pp. 27-31 [ungerade Seiten]; Wissenschaftslehre 1804. 2. Vortrag, „Copia“).

Trotz ihrer interpretatorischen Freiheiten ist Fichtes Lektüre der drei Kritiken als ebenso vieler mit kontingenter Pluralität affizierter Philosophien des Absoluten von Interesse im Hinblick auf Fichtes eigene prinzipielle Einteilung der Transzendentalphilosophie qua Wissenschaftslehre sowohl im Erläuternden Zusatz der Brieffassung der „Aphorismen“ als auch im Zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1804. Doch bevor Fichte im Erläuternden Zusatz der „Aphorismen“ die Grundformen des gegenständlichen Bewusstseins und die korrelierten Gegenstandsbereiche der wissenschaftlichen Philosophie herleitet, spezifiziert er zunächst noch im abschiessenden Paragraphen 5 der „Aphorismen“ das zweite Glied der zuvor (in Paragraph 4) eröffneten Disjunktion zur Verhältnisbestimmung zwischen der absoluten Einheit und der Mannigfaltigkeit von deren Grundbestimmungen. Dieses soll zunächst darin bestehen, die schon von Kant reklamierte absolute Einheit von Sein und Bewusstsein noch ganz unabhängig von den daraus hervorgehenden Korrelativa des Seins und des Bewusstseins („was sie ansich […] ist“) zu gewärtigen.

Im Horizont der „Aphorismen“ bleibt die fällige Realisation der absoluten Einheit eine Anforderung an die Ausführung der programmatischen Vorgabe in der Wissenschaftslehre im engeren und eigentlichen Sinn, namentlich in den Fassungen der Wissenschaftslehre von 1804-05 mit ihren expliziten Anleitungen an die Zuhörerschaft (oder Leserschaft), im je eigenen spontanen intellektuellen Vollzug die innige Einsicht in die absolute Einheit von Sein und Bewusstsein performativ zu erlangen. In den propädeutisch-präparatorisch konzipierten „Aphorismen“ begnügt sich Fichte mit der annäherungsweisen Erfassung der fraglichen absoluten Einheit mittels der als äquivalent anzusehenden Begriffe Vernunft, logos und Wissen. Dabei ist der Begriff des logos dem Prolog des Johannes-Evangeliums entnommen, so wie auch der Kunstausdruck „logologia“ (Logoslehre), den Fichte an dieser Stelle einmalig statt des Terminus „Wissenschaftslehre“ verwendet, auf den Fachterminus für die theologische Lehre vom göttlichen logos (Logologie, logology) zurückgeht (Burke, 1970).

In eins mit der intellektuell dimensionierten, aber intuitiv sich einstellenden Vergewärtigung der absoluten Einheit bloss als solcher soll sich dann, so Fichte weiter im Paragraphen 5, auch die Einsicht in die prinzipielle Trennung der absoluten Einheit in Sein und Bewusstsein sowie die weitere Spaltung der Sein-Bewusstsein-Korrelation in die ebenfalls korrelierten Hauptbestimmungsformen des Seins und des Bewusstseins einstellen – allesamt streng erfahrungsfrei gewonnen („a priori“). Die Umrisse des damit geltend gemachten Prinzipiensystems und seiner Systemarchitektonik erläutert Fichte im „Erläuternden Zusatz“ der Briefversion der „Aphorismen“. Die Trennung des Seins in seiner Korrelation mit dem nach „apriorischen Gesetzen“ differenziell operierenden Bewusstsein liefert zunächst den Grundunterschied von sinnlichem und übersinnlichem Bewusstsein, verbunden mit der weiteren Teilung des letzteren in religiöses und moralisches Bewusstsein samt deren gegenständlichen Korrelaten in Gestalt von Gott und moralischem Gesetz. Dagegen führt die gesetzlich geregelte Teilung des sinnlichen Bewusstseins in „ein Sociales[-] […] und in ein Natur-Bewußtseyn“ auf „ein Rechtsgesetz […] und eine Natur“. Nimmt man noch die das Super-Bewusstsein der Wissenschaftslehre samt ihrem (ungegenständlichen) Gegenstand, dem absoluten Wissen, hinzu, dann stimmt die Systemdisposition der „Aphorismen“ überein mit den fünf Standpunkten und den diesen korrelierten fünf Grundgestalten des Wissens, die Fichte zu Ende des Zweiten Vortrags der Wissenschaftslehre aus dem Jahr 1804 unterscheidet: Natur, Recht, Moralität, Religion und Philosophie qua Wissenschaftslehre (“Fünffachheit”) (Fichte, 1962-2012, II/8, pp. 418, 419).

Die „Aphorismen“ in der Briefversion schließen mit der Erinnerung an den konditionierten Charakter der vorgenommenen Einteilungen von Bewusstsein und Sein, die nicht als absolut anzusehen sind, sondern die differenzielle Interaktion von Sein und Bewusstsein in deren intrinsischen Gesetzlichkeiten reflektieren und deshalb außerhalb der konstitutiven Korrelation von Sein und Bewusstsein („an sich“) keine Gültigkeit haben. Generell gesehen liegt hier eine für den mittleren Fichte insgesamt charakteristische Kombination von Faktizität und Regularität vor. Die Trennung von Sein und Bewusstsein ist unhintergehbar faktisch. Wenn und insofern sie erfolgt, folgt sie aber streng notwendigen Regeln, die Gegenstand der Philosophie qua Wissenschaftslehre sind. Einer ontisch-ontologisch gefassten Lesart von Fichtes transzendentalphilosophischer Doppellehre von Sein und Bewusstsein, bei der es sich in ihrem Kern um Wissenswissenlehre oder Meta-Epistemologie handelt (Zöller, 2013), ist damit ein Riegel vorgeschoben, den allerdings nicht wenige ältere und jüngere Interpretationen Fichtes, insbesondere des mittleren Fichte, zurückzuschieben bemüht waren und sind.

Für das Nebeneinander, Miteinander und Ineinander von Atomie, Dichotomie, Trichtotomie und Pentatomie im System-Diskurs von Kant und Fichte zeichnet sich damit aber auch eine amikable Lösung an. Bei Kant ist der Rekurs auf Kontingentes, Faktisches und Plurales in der philosophischen Systematik alles andere als beliebig und deshalb auch nicht behebbar. Bei Fichte bleibt der systemlogische Rekurs auf absolute Einheit mehr Berufung und Beschwörung denn Aufweis und Leistung. Die Dyaden und Triaden der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft sind genau so von Ur-Faktizität, dem „Empirischen überhaupt“, affiziert wie die Teilungen und Einteilungen der Wissenschaftslehre in deren Darstellungen aus dem Jahr 1804. Die Philosophie Kants wie Fichtes folgt, politisch gesprochen, dem föderativen Programm, Pluralität und Einheit zusammen zudenken in deren wechselseitiger Funktionalität: e pluribus unum.

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Notas

1 Fakultät für Philosophie, Ludwig-Maximilians-Universität München. Kontakt: zoeller@lmu.de.
2 Der Beitrag ist gewidmet dem Gedächtnis an den langjährigen Freund, Kollegen in der Kant- und Fichte-Forschung und Nachfolger im Amt des Präsidenten der Internationalen J. G. Fichte-Gesellschaft, Jacinto Rivera de Rosales.
3 Der Querdruck der Tabelle wurde nicht in die jüngste englische Übersetzung der Kritik der Urteilskraft übernommen (siehe Kant, 2002, p. 83).
4 Für eine Kontextualierung der „Aphorismen“ und zwei Separateditionen auf Deutsch und Englisch dieses Schlüsseltextes siehe Zöller (2022, 2023).
5 Siehe den Nachdruck von Platners Philosophischen Aphorismen, erste Hälfte der Ausgabe von 1793, in Fichte, Gesamtausgabe, II/4 S (Supplement-Band) sowie das Vorwort der Herausgeber in Fichte, Gesamtausgabe, II/7 S: Vf.
6 Wegen der Kürze jedes der fünf Paragraphen sowie der rahmenden Partien wird Fichtes Text im folgenden lediglich nach seiner Einteilung in Paragraphen zitiert. Hervorhebungen im Original werden dabei nicht wiedergegeben.
7 Brief an Jacobi vom 31.3.1804.
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