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Fragen der Baukultur
Conversaciones…, num. 10, pp. 257-266, 2020
Instituto Nacional de Antropología e Historia

Artículos

Conversaciones…
Instituto Nacional de Antropología e Historia, México
ISSN: 2594-0813
ISSN-e: 2395-9479
Periodizität: Bianual
num. 10, 2020

Queda estrictamente prohibida la reproducción total o parcial de los contenidos e imágenes de la publicación sin previa autorización del Instituto Nacional de Antropología e Historia.

Diese Arbeit steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.5 Argentinien-Lizenz.

Resümee: Françoise Choay fordert in ihrer Anthologie Le Patrimoine en questions. Anthologie pour un combat eine Rückbesinnung auf die Werte unseres Kulturerbes, die im Zuge der Globalisierung und Kommerzialisierung zunehmend verloren gehen. Choay plädiert letztendlich für eine vom Erbe ausgehende Gestaltung der Umwelt. Sie versammelt in ihrer Anthologie, 2009 herausgegeben, eine Reihe von unbestrittenen Gründungstexten der Denkmalpflege. Ihre Auswahl bleibt jedoch seltsam rückwärtsgewandt und lässt neuere, wegweisende Texte vermissen. Wir erweitern den Diskurs mit einem Ruf nach einer Bewegung für eine umfassende hohe Baukultur. Diese hebt den konfliktträchtigen Antagonismus von Denkmalpflege und baukultureller Entwicklung auf und versteht den Umgang mit der gebauten Umwelt als Einheit. Ist dieser einer ganzheitlichen, hohen Qualität verpflichtet, und stellt er die funktionalen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse des Menschen ins Zentrum, so stärkt er auch die Erhaltung und Pflege des kulturellen Erbes als zentrale Referenz jeglicher Entwicklungsstrategie. Ein solches neues Narrativ scheint uns heute so wichtig wie notwendig, um die aktuellen, offensichtlichen Qualitätsdefizite unserer gebauten Umwelt zu überwinden.

Schlüsselwörter: Baukultur, Davos Declaration 2018, Davos Qualitätssystem für Baukultur, zweiter Neorealismus, Tradierungskrise.

Fragen der Baukultur

Krise

Die Denkmalpflege ist in der Krise. Zu dieser Schlussfolgerung kommen die Leserin und der Leser von Françoise Choays Anthologie Le Patrimoine en questions von 2009. Im Zuge einer normalisierenden Globalisierung werde unser Kulturerbe zunehmend musealisiert und kommerzialisiert, und die Menschen gingen einem authentischen Zugang zu ihrem Erbe verlustig. Choays Kritik an der Entwicklung des cadre bâti ist auch unsere. Auf den ersten Blick liest sich Choays Aufruf zu Widerstand und Kampf heute aber seltsam rückwärtsgewandt. Ihre semantischen Überlegungen, von Alois Riegl ausgehend, sind scharfsinnig, scheinen aber weit weg von den realpolitischen Problemen unserer Zeit. Ihre Globalisierungskritik verharrt in einer kulturpessimistischen Attitüde und trägt wie die polemische Ablehnung der Konventionen, Empfehlungen und Initiativen der multilateralen Zusammenarbeit wenig Konstruktives zur Debatte bei. Ganz am Ende der Anthologie, unter dem Titel L’avenir, die Zukunft, fühlt sich Choay aber bemüssigt, in wenigen Zeilen ihre Position zu klären:

Mein scheinbarer Pessimismus ist, wie der von Günther Anders, ein rhetorisches Mittel und soll nicht einen grundsätzlichen Optimismus verbergen. Ebenso darf mein Interesse am gebauten Erbe, ob historisch oder nicht, in keiner Weise als Zeichen von Rückwärtsgewandheit interpretiert werden. Ich kämpfe gegen alle gängigen Formen der Musealisierung, aber für eine Praxis der Erinnerung, welche die Erneuerung formt[1] (Choay, 2009: 209).

Damit fordert Choay eine vom Erbe ausgehende Gestaltung der Umwelt. Wir erweitern dieses Konzept zu einem grundsätzlich qualitätsorientierten, ganzheitlichen Ansatz – dem Streben nach hoher Baukultur.



ZENTRALPLATZ IN BIEL.
Bild: ©BAK / Rolf Siegenthaler.

Heute müssen wir nämlich feststellen, dass nicht nur die Disziplin der Kulturerbeerhaltung in der Krise ist, sondern der gesamte Umgang mit der gebauten Umwelt ein wachsendes kulturelles Defizit aufweist. Dieser Befund ist an vielen Orten auf der ganzen Welt augenfällig und geht über den Zustand des Kulturerbes hinaus. Die Krise ist das Resultat einer Disbalance, die seit Jahrzehnten andauert und letztendlich das Versagen der öffentlichen Raumordnungspolitik deutlich macht. Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist uns die Kultur beim Planen und Bauen zunehmend abhandengekommen. Wachsende wirtschaftliche, konstruktive und baustoffliche Möglichkeiten beeinflussten das Bauen und Planen; sie wurden aber kaum von einem breiten baukulturellen Diskurs begleitet. Diesen führten, wenn überhaupt, nur Fachleute und selten transdisziplinär. Heute fehlt uns die gesellschaftliche Befähigung, zur Qualität des Raums präzis Stellung zu nehmen. Dieses kulturelle Defizit führte zu einem Übergewicht an Technisierung und Ökonomisierung, das die Baukunst vereinnahmt hat. Zu lange Zeit drehte sich die Debatte um die funktionale und technisch kontrollierbare Entwicklung des Raums, und nicht um die Kunst des Bauens von Städten, Dörfern und Infrastrukturen – was zuerst einmal eine kulturelle Aufgabe ist. Ob diese Technisierung, wie Choay insinuiert, eine Folge der Globalisierung ist oder als Erbe der Moderne verstanden werden muss, bleibe dahingestellt. Auch die Klimadebatte beispielsweise ist dominiert von Fragen der technischen Möglichkeiten für die Energie-Effizienz und deren Kosten, während die für die Erreichung der Klimaziele ebenfalls bedeutenden kulturellen und sozialen Aspekte aussen vor bleiben. Die Denkmalpflege findet sich in diesen Veränderungen in einer ambivalenten Situation wieder: Einerseits bedient sie ein breites Bedürfnis nach Erinnerung, Verortung und Schönheit, das beileibe nicht nur kommerziell motiviert ist, andererseits wird sie ständig als Innovations- und Entwicklungsverhinderin kritisiert, was sie gerade im Rahmen ebendieser Klimadebatte gefährlich an den Rand drängt. Der Schutz und die sachgerechte Pflege der wichtigen Denkmäler sind von niemandem bestritten. Der aus regionaler und lokaler Sicht wertvolle Denkmalbestand, das sogenannte alltägliche petit patrimoine, Ortsbilder und Siedlungsstrukturen sowie Kulturlandschaften hingegen leiden. Kaum aufgrund der Musealisierung und Kommerzialisierung, die Choay in den Vordergrund stellt und was allenfalls für einige wenige Hotspots des Tourismus gelten mag, sondern durch oftmals völlig unsensible Eingriffe, begründet mit der Anpassung an die sogenannten zeitgemässen Standards und funktionalen Bedürfnisse, das heisst durch ein wertloses Weiterbauen ohne jeglichen qualitativen Anspruch.

Sowieso lässt sich der Umgang mit dem historischen Bestand vom Planen und Bauen des Neuen kaum mehr sinnvoll scharf trennen. Das kulturelle Erbe und der Nutzen seiner Erhaltung gewinnen als Teil einer umfassenden qualitativen Betrachtung der gesamten gebauten Umwelt an Sinn, und genau darauf kommt es an: Dass die Gesellschaft die kulturellen Werte – und abgesehen davon auch die Werte der Natur – ihres gesamten Lebensraums wieder als solche erkennt und aktiv einfordert – für jegliche Tätigkeit, die den Raum verändert, nicht nur begrenzt auf das Erbe oder auf das erklärte und geschützte Denkmal, dem naturgemäss ein elitärer Charakter innewohnt. Das Neue ist genauso wichtig. Salopp gesagt: Was nützt mir das wunderbar instandgesetzte alte Riegelhaus, wenn ich mich auf dem Weg zu ihm durch einen unsäglichen Brei an uninspiriertem Urban Sprawl kämpfen muss? Mannigfach mögen die Ursachen für diese Malaise sein, der wir heute gegenüberstehen, aber um die deprimierende Einsicht kommen wir nicht herum: Es besteht allerorts ein grosses und stets noch wachsendes Defizit an allgemeiner baukultureller Qualität. Die Kulturerbe-Erhaltung allein wird uns das Problem nicht lösen können.

Choay illustriert ihre Argumente – für das Verständnis der historischen Qualität des Raums und ein Wiedererstarken der regionalen Qualitäten – mit einer sehr selektiven Textauswahl. Ihre Anthologie verbleibt im Wesentlichen bei den Gründungsvätern der Disziplin. Deren wegweisender und bisweilen auch äusserst weitsichtige Beitrag zur Entwicklung der (europäischen) Denkmalpflege und deren Institutionalisierung ist unbestritten und muss nicht weiter diskutiert werden. Auf die Fragen des 21. Jahrhunderts kann mit diesen Texten und den ihnen innewohnenden Ansätzen allein jedoch nicht mehr überzeugend geantwortet werden. Jüngere und ebenso zentrale Beiträge zum Thema blendet Choay aus. Die Welterbekonvention der UNESCO von 1972 ist als Abschluss der Sammlung in Auszügen zitiert, gewissermassen als Illustration zur vehementen Kritik an der UNESCO, die als Sinnbild für die Globalisierung und für die Gleichschaltung des Kulturerbes hinhalten muss. Kritik an der Welterbekonvention mag in verschiedener Hinsicht berechtigt sein, deren Verdienste bleiben nichtsdestotrotz beeindruckend: Sie erlaubt seit Jahrzehnten eine weltweite Diskussion zu Konzepten und Praktiken des Natur- und Kulturerbes, und nur schon die frühe Verbindung von Natur- und Kulturerbe war richtungsweisend. Die Debatte zur Kulturlandschaft wurde massgeblich von der UNESCO wenn nicht geprägt, dann sicher breit verankert; die internationale Diskussion zur Authentizität stammt aus dem System Welterbe und die – erst nach der Anthologie von Choay verabschiedete – Empfehlung zur historischen Stadtlandschaft[2] hat die Diskussion über den Umgang mit komplexen, vielschichtigen Siedlungsstrukturen weitergebracht, um nur wenige Beispiele zu nennen. In vielen Ländern hat die Konvention zudem ganz konkret zum Schutz und zur Erhaltung von herausragenden Stätten beigetragen. Die Reduktion des Welterbes auf die in der Tat mitunter unglückliche synergetische Verbindung mit der Tourismusindustrie oder auf ein vermeintliches Best-Of-Verständnis des kulturellen Erbes greift zu kurz. Aus der Zeit nach 1980 gibt es für Choay offenbar keine erwähnenswerten Texte mehr. Was ist mit der Konvention von Faro[3] des Europarats von 2005 und ihrer wegweisenden Auffassung des kulturellen Erbes als Ressource für die Gesellschaft, deren Teilhabe am Erbe dieses erst sinnstiftend macht? Wie wäre der damit verbundene Perspektivenwechsel vom Objekt zum Menschen einzuordnen? Worin ist der Bezug des Erbes zum Nachhaltigkeitsdiskurs zu verorten? Dazu schweigt Choay. Ihr Aufruf verhallt deshalb ohne starke zukunftsweisende Vision und beschränkt sich auf drei Forderungen: eine Verbesserung von Erziehung und Ausbildung im Bereich des kulturellen Erbes, die Stärkung der Aneignung von Denkmälern für die zeitgenössische Nutzung (heute würden wir von «adaptive re-use» sprechen) sowie die Partizipation der Bevölkerung. Bezeichnenderweise sind diese Postulate auch wichtige Anliegen eben dieser Texte, die Choay nicht in ihre Anthologie aufgenommen hat.



MARKTHALLE AARAU.
Bild: ©BAK / Rolf Siegenthaler.

Zehn Jahre nach Erscheinen von Le Patrimoine en questions scheint die Zeit deshalb mehr als reif, auf Choays Pfad einen Schritt weiter zu gehen, und den vermeintlichen Antagonismus zwischen Erbe und zeitgenössischem Schaffen aufzulösen. Mit der Verweigerung digitaler Werkzeuge beim Zeichnen und der Umnutzung von historischen Palazzi zu Universitätsgebäuden, Beispiele, mit denen Choay ihre Forderungen erläutert, ist es nicht getan. Gründet unsere Tradierungskrise nicht gerade auch im Beharren auf der Deutungshoheit und in der fehlenden Offenheit zur Weiterentwicklung unserer theoretischen Konzepte und praktischen Ansätze?

Baukultur

Ich bin überzeugt davon, dass wir für den Umgang mit unseren Denkmälern einen neuen Zugang und damit auch ein neues Narrativ benennen müssen, das den Menschen und seine kulturellen und sozialen Bedürfnisse ins Zentrum stellt, mit anderen Worten: Einen dem Gemeinwohl verpflichteten, neuen Umgang für das Bauen. Das ist hohe Baukultur.

Wir müssen die gebaute Umwelt, den Raum, als Einheit verstehen lernen, und die unweigerlich stattfindende Transformation desselben auf eine gemeinsame Wertvorstellung ausrichten: Einer hohen Qualität für das Wohlbefinden des Menschen. Der Schutzauftrag für das kulturelle Erbe muss heute mit einem qualitativen Gestaltungsauftrag für die gesamte gebaute Umwelt erweitert (und beileibe nicht ersetzt!) werden. So wird die Kulturerbe-Erhaltung ein Teil des Strebens nach Qualität, das für jegliche Bauaufgabe gilt.

Das Verhältnis zum baulichen Kulturerbe ist dabei einfach, bedarf aber der präzisen Aussage, um jegliche Missverständnisse zu vermeiden: Das kulturelle Erbe ist eine zentrale Referenz für unsere Baukultur. Denkmalpflege und auch archäologische Massnahmen sind – neben anderen Aspekten – ein wichtiger Teil jeder nachhaltigen Entwicklungsstrategie. Das holistische und auf hohe Qualität ausgerichtet Verständnis der räumlichen Entwicklung schwächt deshalb nicht den Schutz, die Pflege und Erhaltung des Kulturerbes, sondern stärkt im Gegenteil die Beziehung zum Bestand und das gemeinsame Verständnis von Denkmalwert. Erst wenn der historische Bezug als Teil der hohen Qualität des gesamten Raums anerkannt ist, wird sich die Denkmalpflege behaupten können und eine umsichtige Behandlung des kulturellen Erbes nachhaltig und kontinuierlich sichern.

Das Konzept Baukultur wurde mit der Davos Declaration 2018: Towards a high-quality Baukultur for Europe[4] in Europa auf politischer Ebene verankert und ist auf grosses positives Echo gestossen. Mit der Verabschiedung der Erklärung von Davos haben sich die europäischen Kulturministerinnen und Kulturminister verpflichtet, sich für eine Stärkung unserer Baukultur einzusetzen. Das Ziel einer qualitätsvollen gebauten Umwelt ist seither eine explizite kulturpolitische Forderung.

Unsere gesamte gebaute Umwelt ist Ausdruck unserer Baukultur. Wie wir mit dem baulichen Bestand umgehen, wie wir Denkmäler schützen und pflegen oder aufgeben; wie wir die archäologischen Hinterlassenschaften im Boden behandeln, wie wir unsere Städte und Dörfer planen, welche Prozesse wir dazu einsetzen, welche Bauweisen und Materialien wir anwenden, welche Umweltbelastungen wir mit dem Bauen und der Nutzung des Gebauten auslösen, all dies sind Aspekte unserer Baukultur. Auch die ohne jeglichen Anspruch – aber nichtsdestotrotz legal – geplanten und realisierten Projekte, die konstruktiv nachlässige Bauerei, auch dies ist Ausdruck unserer heutigen Baukultur. Was wir anstreben, ist eine hohe Baukultur oder mithin das Wiedererstarken kultureller Werte im Umgang mit dem Raum.

In verschiedenen Sprachen gibt es für das Konzept Baukultur keinen Begriff mit einer exakten Entsprechung. Deshalb wurde beispielsweise in Englisch und Spanisch der deutsche Begriff Baukultur übernommen. In anderen Sprachen kam es zu einer Übersetzung oder man behilft sich mit begrifflichen Konstrukten.[5] Die gewählte Begrifflichkeit ist letztendlich nicht von höchster Relevanz, wohl aber das gemeinsame Verständnis des zugrunde liegenden Prinzips: Es geht um den umfassend wahrzunehmenden Ausdruck der Behandlung der gebauten Umwelt. Nicht zu verwechseln ist hohe Baukultur deshalb mit der weit weniger umfassenden, sogenannten «guten Architektur».



IM BILD EIN STRECKENABSCHNITT DER A16 TRANSJURANE.
Bild: ©BAK / Rolf Siegenthaler.

Qualität

Dem Begriff der «Qualität» kommt eine Schlüsselrolle zu. Die Erklärung von Davos bezeichnet die Qualität als strategischen Imperativ. Wenn hohe baukulturelle Qualität auch zeit- und kontextabhängig beurteilt werden muss, dann ist sie weder ein völlig subjektiver Eindruck, noch eine rein formale Angelegenheit. Das individuelle Erleben der Qualität eines Ortes kann je nach Lebenssituation variieren, dennoch lassen sich aber gemeinsame Nenner und Werte einer hohen Qualität definieren und objektiv bewerten.

Ein gemeinsames Verständnis von der Definition hoher baukultureller Qualität und von der Möglichkeit deren Beurteilung sind deshalb für jede weitere Diskussion unabdingbar. Überlegungen dazu sind denn auch schon länger Gegenstand der Debatte. Es gibt derzeit aber keine Methode oder kein Werkzeug, um die baukulturelle Qualität eines Ortes ganzheitlich zu beurteilen. Verschiedene bestehende Instrumente, Initiativen, Prinzipien oder gar Zertifizierungssysteme berühren stets nur unterschiedliche, einzelne Gesichtspunkte einer umfassenden Baukultur.[6] Sie beziehen sich nicht umfassend auf die Baukultur mit all ihren Aspekten, einschliesslich des kulturellen Erbes, des zeitgenössischen Schaffens, aller Teile der gebauten Umwelt sowie der Prozesse ihrer Veränderung.

Davos Qualitätssystem für Baukultur

Im Rahmen des Davos-Prozess wurde deshalb das Davos Qualitätssystem für Baukultur[7] entwickelt. Unter Davos-Prozess verstehen wir das Bestreben vieler öffentlicher und privater Akteure, die Erklärung von Davos 2018 weiter zu konkretisieren. Die unterschiedlichen Aspekte der Baukultur und Wege zur Zielerreichung der Erklärung von Davos bedürfen dazu der Vertiefung; zugleich soll das Thema Baukultur auch auf der politischen Agenda aktuell bleiben.



KULTURMINISTERKONFERENZ DAVOS 2018.
Bild: ©BAK / Ruben Speich.

Das Davos Qualitätssystem für Baukultur wählt einen multidimensionalen, choralen Ansatz, um den ganzheitlichen Begriff der hochwertigen Baukultur abzubilden. Es schlägt acht Qualitätskriterien und Prinzipien zur Definition und Beurteilung von baukultureller Qualität vor. Es ist damit der erste Ansatz, der soziale, kulturelle und emotionale Kriterien gleichberechtigt neben die eher üblichen technischen, ökologischen und ökonomischen Kriterien stellt und ihnen damit den gebührenden Stellenwert in einer umfassenden und ausgewogenen Bewertung gibt.

Die acht Qualitätskriterien sind Gouvernanz, Funktionalität, Umwelt, Ökonomie, Kontext, Vielfalt, Genius Loci und Schönheit. Die einzelnen Kriterien sind miteinander verknüpft und es gibt thematische Überschneidungen in ihren Inhalten, aber sie sind alle gleich wichtig. Wenn sie für einen Ort erfüllt sind, handelt es sich um hohe Baukultur.



8 KRITERIEN FÜR BAUKULTUR.
Bild: Davos Qualitätssystem für Baukultur.

Gouvernanz im Sinne von hoher Baukultur fördert qualitätsorientierte und ortsspezifische Prozesse, die von qualifizierten, in Teams arbeitenden Akteuren geleitet werden. Sie erleichtert das öffentliche Engagement und trägt zu transparenten und inklusiven, partizipativen Entscheidungsfindung, Management und Pflege des Ortes bei. Funktionalität äussert sich in der Gestaltung und Bauweise, welche die menschlichen Bedürfnisse nach Gesundheit, Komfort, Sicherheit und Barrierefreiheit erfüllen. Orte von hoher Baukultur sind langlebig und an bestehende und sich verändernde Nutzungen und Zwecke anpassbar, wobei das gebaute Erbe erhalten bleibt. Bezogen auf die Umwelt ist hohe Baukultur nachhaltig; sie trägt dazu bei, die natürlichen Ressourcen und die biologische Vielfalt zu erhalten und den Klimawandel abzumildern. Sie bewahrt, fördert und entwickelt eine intakte natürliche Umwelt und vielfältige Kultur- und Naturlandschaften durch verantwortungsvolle Landnutzung und Urbanisierung, nachhaltige Mobilität, Energieeffizienz und den Einsatz langlebiger Baumaterialien und -methoden unter Berücksichtigung des gesamten Lebenszyklus. Aus der Sicht der Ökonomie gibt hohe Baukultur kulturellen Werten und langfristigem – vor kurzfristigem – wirtschaftlichem Gewinn den Vorrang, bewahrt und steigert den wirtschaftlichen Wert und führt zu Orten hochwertiger Nutzung. Sie erhält und entwickelt Ressourcen durch langfristige, auf den Standort und die Gestaltung abgestimmte Nutzungen, durch Sparsamkeit bei Bau und Betrieb und durch den Einsatz hochwertiger, langlebiger Bausubstanz. Ansprüche an die soziale Vielfalt erfüllt hohe Baukultur, indem sie integrative Gesellschaften und gemischte Nutzungen fördert. Sie erleichtert das Miteinander und die gemeinsame Verantwortung, die zu sozialem und räumlichem Zusammenhalt führen. Sie trägt zu einer vielfältigen Kultur des Planens bei. Orte hoher Baukultur beziehen sich zudem auf ihren gebauten und natürlichen Kontext. Sie umfassen das gebaute Erbe und die zeitgenössische Gestaltung und stehen im Dialog mit den örtlichen Gegebenheiten und deren Charakteristika in Bezug auf Zeit, Massstab, Typologie und Materialität. Hohe Baukultur trägt zum Genius Loci bei: Sie weist Eigenschaften auf, die die emotionale Reaktion der Menschen auf den Ort fördern und eine positive Beziehung zu ihm herstellen. Sie fördert die Bindung an den Ort durch ihre starke Identität und Unverwechselbarkeit und trägt so zur Erfüllung sozialer, psychologischer und kultureller Bedürfnisse bei. Schliesslich führt hohe Baukultur zu Schönheit. Sie berücksichtigt die sinnliche Wahrnehmung und das Verständnis für die Beziehung zwischen Objekten, Räumen und Menschen und erhöht damit die Lebenszufriedenheit und Lebensqualität der Menschen. Sie betont das Bedürfnis nach positiver ästhetischer Wertschätzung und einer erfüllenden Beziehung zwischen Menschen und dem Ort.

Das Qualitätssystem für Baukultur schlägt für die Beurteilung eines Ortes denn auch für jedes Kriterium eine Reihe von zentralen Fragen vor, die es zu beantworten gilt. Wer noch weitergehen möchte, kann diese Fragen – und vor allem auch die Antworten darauf – weiter objektivieren und mit geeigneten Indices und entsprechenden Benchmarks bemessen. Freilich macht die konkrete Beurteilung eines Ortes eine kontextspezifische Anwendung der Kriterien und eine individuelle Bestimmung der relevanten Fragestellungen oder gar Indices nötig. Das System dient in seiner allgemeinen Form als Grundlage für eine ganzheitliche Betrachtung des Raums, die auf Qualität ausgerichtet ist – auf ebendiese hohe Baukultur.

Die Rückkehr zum Menschen

Angesichts der aktuellen, äusserst dringlichen Aufgaben – wie der Klimaschutz, die Förderung der Biodiversität oder ganz allgemein der Kampf gegen Umweltbelastungen aller Art sowie gesellschaftliche Herausforderungen wie die wachsenden sozialen Disparitäten – scheint eine grundsätzliche Rückbesinnung auf das kollektiv Menschliche für jegliches Bauen evident. Das mag zunächst naiv erscheinen, verdient aber Aufmerksamkeit. Der Forderung inhärent ist eine politische Neupositionierung des Öffentlichen und Privaten, was gerade in Bezug auf die Baukultur ein wesentlicher Punkt ist. Wie wir unsere Umwelt bebauen, ist keine Privatsache. Eine hohe Baukultur ist inklusiv, trägt direkt zum Gemeinwohl bei und ist deshalb von besonderem öffentlichen Interesse. Die – zumindest in den westlichen Gesellschaften – dominierende Fokussierung auf das private Eigentum und die damit zusammenhängende Freiheit bedarf keiner revolutionären Neuordnung, aber eines grundsätzlichen Überdenkens. Die in unseren Gesetzgebungen und Regeln etablierte Priorität der privaten Gestaltungsmöglichkeit scheint zunehmend obsolet, und eine Umkehr des Verhältnismässigkeitsprinzips wäre angebracht. Erlaubt ist nicht, was das Gemeinwohl nicht zu sehr einschränkt, sondern diesem dient.

Wir rufen deshalb zu einer Bewegung für eine hohe Baukultur auf. Und wie Françoise Choay bleiben wir optimistisch: In aller jüngster Zeit gewinnt der Ruf nach Rückbesinnung auf die menschlichen Werte an Kraft und wir beobachten ein Momentum für die Anliegen hoher Baukultur. Dies ist kein Zufall, sondern Ausdruck der wachsenden Frustration angesichts der Gestalt unserer Umwelt. Die Bedeutung von qualitäts fördernden, informellen und formellen Prozessen und Werkzeugen nimmt zu; zahlreiche Initiativen, die sich einer Verbesserung des Raums verschrieben haben, gewinnen an Fahrt. Das Wohlbefinden der Menschen ist dabei immer zentraler Faktor. Formal kann sich dies, je nach Ort und Kontext, auf vielfältigste Weise konkretisieren und fern liegt uns jegliche paternalistische Stilverordnung. In Europa klingt bisweilen ein neuer Realismus an, der in erstaunlicher Weise die Prämissen des italienischen Neorealismus der 1950er Jahre wiederaufnimmt. Als Gegenreaktion auf die faschistischmonumentalen Architekturen kam es im Nachkriegsitalien zu einer Wiederbesinnung auf die vernakulären Strukturen, das konstruktive und dekorative Detail und den menschlichen Massstab. Die Abkehr von der entmaterialisierten, unmassstäblichen, glatten Sprache lässt sich auch in der zeitgenössischen Architektur wieder vermehrt beobachten: Organische Figuren, rhythmisierte und haptisch materialisierte Fassaden, Kleinteiligkeit und Massstäblichkeit werden wieder zu Leitmotiven dieses «zweiten Neorealismus». Grundsätzlich und unabhängig von jedem formalen Ausdruck eröffnet diese Rückkehr zum Menschen auch positive Perspektiven für die Pflege und die Erhaltung des kulturellen Erbes als Teil der gesamten gebauten Umwelt. Verbunden mit den umfassenden Nachhaltigkeitszielen verkörpert sie eine Auffassung, welche die vorhandenen Strukturen und Werte aufnimmt, erhält, wiederverwendet und wo nötig erneuert. Ziel ist nicht eine mimetische Architektur oder der Verzicht auf jeglichen Bruch und Innovation, sondern die bewusste und debattierte Berücksichtigung aller Kriterien für eine hohe baukulturelle Qualität. Wenn sich diese Ansätze zurzeit meist erst an ausgewählten Orten, in der Regel mit besonderer Wertigkeit, beobachten lassen, dann besteht die grosse Aufgabe unserer Zeit, sie für das ganze Territorium anzuwenden. Auch dort, wo sich bisher niemand um Qualität kümmerte. Das ist der grosse Anspruch einer hohen Baukultur, und das ist meines Erachtens auch die zukunftsfähige Strategie für unser kulturelles Erbe.

*

Referenzen

Choay, Françoise (2009) Le Patrimoine en questions. Anthologie pour un combat, Seuil, Paris.

Davos Declaration (2018) Towards a high-quality Baukultur for Europe [www.davosdeclaration2018.ch] (aufgerufen am 5. Juni 2021).

Faro Convention (2005) Convention on the value of cultural heritage for society, Council of Europe, Faro.

The Davos Baukultur Quality System (2021) [https://davosdeclaration2018.ch/quality-system/] (aufgerufen am 5. Juni 2021).

UNESCO (1972) Convention concerning the protection of the World Cultural and Natural Heritage, UNESCO, Paris.

UNESCO (2011) UNESCO Recommendation on the Historic Urban Landscape, UNESCO, Paris.

Fußnote

1 Original Zitat: «Mon pessimisme apparent répond, comme celui de Günther Anders, à un parti rhétorique et il ne doit pas masquer un optimisme fondamental. De même l’intérêt que je porte au patrimoine bâti, historique ou non, ne doit, en aucune manière, être interprété comme une marque de passéisme. Je milite contre toutes les formes actuelles de muséification, mais pour une pratique mémorielle qui conditionne l’innovation».
2 UNESCO Recommendation on the Historic Urban Landscape (2011).
3 Council of Europe, Convention on the Value of Cultural Heritage for Society (Faro Convention) 2005.
4 [www.davosdeclaration2018.ch].
5 Französisch: Culture du bâti, Italienisch: Cultura della costruzione. Die Open Method Coordination Group der EU-Kommission zum Thema im Rahmen des EU-Arbeitsplanes für Kultur 2019-2022 etwa wurde betitelt mit «high-quality architecture and built environment».
6 z.B. Nachhaltigkeit und «grünes Bauen» (z.B. SNBS, DGNB, LEEDS, BREEAM), Wohnen und Bauen (z.B. Wohnungs-BewertungsSystem WBS-CH, The Design Quality Indicator DQI), oder Städtebau (z.B. The Quality Ladder), Instrumente der Raumentwicklung, des kulturelles Erbe (z.B. ICOMOS European Quality Principles), der historischen Stadtlandschaft (z.B. UNESCO Recommendation on the Historic Urban Landscape); oder baukulturspezifische Richtlinien und Stellungnahmen (z.B. Österreichische Bundesleitlinien zur Baukultur, Innsbrucker Erklärung des Architects’ Council of Europe ACE).
7 The Davos Baukultur Quality System, publiziert im Mai 2021 [https://davosdeclaration2018.ch/quality-system/].


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